Er, der einmal ein Fanzine schrieb (3)

24.11.2006 | 0 Kommentare | barracuda

Dritter Teil der kurzen Heilig-Abend-Geschichte, die relativ wenig mit Weihnachten zu tun hat. Ein Gedankentrip in die Vergangenheit.
Früher, bevor er einmal ein Fanzine schrieb, wollte er sogar in die Werbung.

Seine Studienzeit hatte er mehr oder minder vergeigt und auf ein Maximum hinausgezögert, bevor er dennoch exmatrikuliert wurde. Aber in seiner Wohngemeinschaft war es einfach zu schnuckelig und die Festivitäten zu häufig. Dehalb war er zu beschäftigt fürs Lernen, oder einfach an den Tagen nach den Feiereien zu belämmert, als dass er noch was auf die Reihe brächte. Aber auf einer dieser Partys lernte er auch seine Freundin kennen. Er hockte einigermaßen angetrunken auf einem der beiden Sofas im Wohnzimmer; eigentlich war es kein richtiger Raum, eher ein Schlauch mit Fenster zur Straße. Aber die beiden weichen Couches, die zu einem L aufgestellt waren und den meisten Platz einnahmen, waren zugleich die beliebtesten Plätze seiner Clique. Nahezu jedes Wochenende, genauer gesagt Freitags und Samstags, sowie vor Feiertagen, trafen sich alle, um vor dem Weggehen noch das eine oder andere preiswerte Bier zu trinken und über die laufenden Sendungen im TV zu lästern. Was für ein Spaß. Die beiden Kühlschränke, die wie ein Turm übereinander gestapelt waren, er bezeichnete dieses Konstrukt als The Tower Freeze, waren eigentlich immer gut gefüllt. Und das nicht mit billigem Zeug aus dem Discounter sondern mit dem etwas teureren Pils aus dem Getränkemarkt, gut und gerne drei Tage durchgekühlt und ruhig gelagert. Nur dass er immer als einziger daran dachte, die Vorräte zu überprüfen und rechtzeitig vor dem Exodus aufzufüllen, das machte ihn wütend, damals. Schließlich musste das Flaschengut in den verdammten vierten Stock geschleppt werden. Wieviel er getragen hatte in den fünf Jahren seiner WG-Zeit, wusste er nicht mehr, er war sich allerdings sicher, dass seine Rückenschmerzen der Nuller eine direkte Folge der Neunziger waren.


Heute blickt er mit einem milden Lächeln auf diese Zeit zurück. Scheiße, ich vermisse das, denkt er, als er die Tasche zwischen seinen Beinen hervorkramt und die Klappe öffnet. Er hat Lust, sein Lieblingsmagazin durchzublättern, das er vorhin im Zeitschriftenladen gekauft hatte, als der Lautsprecher knackt und die Stimme der Bahnführerin diesen Straßennamen durchsagt, der fünf Jahre lang seine Heimat war.

Er hockte ganz links auf dem Sofa, direkt neben den Kühlschränken, sein Kopf an den alten Bauknecht angelehnt, das Bier in der rechten Hand. Der Hals der grünen Flasche neigte sich gefährlich tief, die Flüssigkeit näherte sich bereits dem Rand und drohte, eine schön schäumende Sauerei auf Hose und Sofa zu ergießen. Er merkte es nicht, seine Augen waren geschlossen, seine Gedanken fuhren Achterbahn. He, Schlafmütze, pass mal auf, dass du dich nicht nass machst. Zwei junge Frauen standen vor ihm und lächelten. Eine von beiden würde bald seine Freundin sein, zum jetzigen Zeitpunkt wussten das aber alle drei noch nicht, und es war auch vollkommen unwichtig. Sofa und Hose blieben trocken, vorerst. Er aber verstieg sich in ein irres Gespräch, an das er sich am nächsten Morgen nicht mehr erinnerte. Seine Freundin erzählte ihm viel später, was er ihr damals aufgetischt hatte, von wegen er sei Helikopterpilot und habe früher, vor seiner Zeit bei der Armee, ein Studium zum Leukämisten begonnen, welches er aber für sein Vaterland aufgegeben hätte. Das war natürlich Quatsch, denn in Wirklichkeit hatte er verweigert und während seiner Ziviphase angefangen zu rauchen und zu saufen. Gut, das stellte nicht wirklich einen Unterschied zur Bundeswehr dar, aber wer sollte das schon so genau wissen? Nur, dass man Blutkrebs nicht studieren konnte sondern einfach bekam, ganz nach Lust und Laune der Natur und Veranlagung des Erbgutes, wusste seine spätere Freundin schon. Mitten in seiner Sprücheklopferei ließ sie ihn auch vorzeitig abfahren, auf ein kluge und bestimmte Weise, wie sie fand, und goß über seine Jeans eine Menge Bier. Es war ihr gut gekühltes. Daran zumindest erinnerte er sich auch noch am Tag darauf, oder zumindest konnte er es riechen, da seine Levi’s ganz schön nach Bier stank.

Das Bimmeln der Straßenbahn ist markerschütternd. Irgendein armer Tropf sitzt wohl gerade in seinem Wagen und betet, die Kreuzung werde frei und er möge sie verlassen, bevor der wahnsinnige Bahnfahrer mit giftigen Pfeilen schießt. Dabei ist es eine Frau, die vorne lenkt, schmunzelt er. Ehrlich, ich weiß nicht, was das bringen soll, durch das Klingeln löst sich der Wagen auch nicht in Luft auf. Er findet das blöd. Außerdem nervt es auch hier drinnen. Er kruscht in seiner Tasche und findet ein kleines schwarzes Päckchen mit seinem MP3-Spieler. Er hat keine Lust, den Äther vermüllen zu lassen und das Pfeifen in seinem Innenohr durch negativen Lärm zu erhöhen. Dann lieber von seiner Lieblingsmusik. Also zieht er den Spieler aus der Nylonhülle, lässt das Display aufleuchten und drückt mit den Tasten zielsicher zu seinem momentanem Lieblingsalbum. Schnell die Hörstöpsel in die Ohrmuscheln und los. Die irre Straßenbahnführerin hält den Klingelknopf immer noch gedrückt, sadistisch aber konsequent. Er bekommt davon nichts mehr mit. In seinem Kopf verteilt sich Ether und er genießt positiven Lärm, gute Musik nämlich.
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Reihe

22.12.2006 - Er, der einmal ein Fanzine schrieb (6) barracuda

Tja, es ist unausweichlich. Übermorgen weihnachtet es sehr, und Geschenke all überall. Meines an euch kommt bereits heute: Der sechste und letzte Teil meiner kleinen Pseudo-Christmas-Story!

08.12.2006 - Er, der einmal ein Fanzine schrieb (5) barracuda

Eine Geschichte, die am Heiligen Abend spielt – und doch mehr mit Musikkultur zu tun hat, als mit Weihnachten? Teil 5, viel Spaß!

01.12.2006 - Er, der einmal ein Fanzine schrieb (4) barracuda

Weihnachten? Keine Angst, diese Geschichte hat nix damit zu tun, der Heilige Abend dient nur als Klammer oder so. Teil 4: Musik und Geschmacksentwicklung. Viel Spaß!

24.11.2006 - Er, der einmal ein Fanzine schrieb (3) barracuda

Dritter Teil der kurzen Heilig-Abend-Geschichte, die relativ wenig mit Weihnachten zu tun hat. Ein Gedankentrip in die Vergangenheit.

17.11.2006 - Er, der einmal ein Fanzine schrieb (2) barracuda

Es geht weiter mit der kurzen Geschichte, die zwar am Heiligen Abend spielt, aber sonst relativ wenig mit Weihnachten zu tun hat. Heute Teil 2, viel Spaß.

10.11.2006 - Er, der einmal ein Fanzine schrieb barracuda

Inspiriert von der Geschichtensammlung „Driving Home“ (die ich allerdings nie gelesen habe) erdachte ich eine kurze Geschichte, die zwar irgendwie am Heiligen Abend spielt, aber sonst relativ wenig mit Weihnachten zu tun hat.


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