Er, der einmal ein Fanzine schrieb (5)
Eine Geschichte, die am Heiligen Abend spielt – und doch mehr mit Musikkultur zu tun hat, als mit Weihnachten? Teil 5, viel Spaß!
Er, der einmal ein Fanzine schrieb, betrachtet einen Fahrgast.
Der MP3-Spieler ist durch seinen leeren Akku nutzlos geworden, zumindest für den Rest der Straßenbahnfahrt, und auch des gesamten restlichen Tages. Warum bloß hatte er das Gerät nicht einfach neu aufgeladen? Früher in seinen WG-Tagen hatte er sich doch immer um den Biernachschub gekümmert, und was war denn beim Akkuladen anders? Letztendlich waren beide Aktivitäten, Biertrinken und Musikhören, ein toller Zeitvertreib für ihn und hätten deshalb dieselbe konsequente Aufmerksamkeit verdient. Vielleicht, denkt er, bin ich auch nur älter und mein Gehirn viel schlechter geworden? Eventuell ebenfalls eine Folge der rauschorientierten Neunziger, flüstert er ganz leise. Manchmal ertappt er sich dabei, dass er vor sich hin redet. Fast unhörbar für andere, aber er bewegt die Lippen dabei, und das könnte schon ausreichen, ein seltsames Bild auf ihn zu werfen. Obwohl es ihm eigentlich egal ist, schließlich sieht er sich als Unangepassten, der macht was er will, ohne sich um die Gedanken der anderen zu scheren. Auf jeden Fall entscheidet er sich gegen das sinnlose, leere an die Decke schauen und wirft einen Blick auf die Mitfahrenden im Wagen.
Ihm gegenüber, auf einem der harten Plastikstühle sitzt ein seltsamer Mann, einer von der Sorte Musikfan, die er schon länger nicht mehr gesehen hatte. Er hätte sogar schwören können, dass die Szene, derer der Typ sich anscheinend angehörig fühlt, irgendwann einfach weg war. Natürlich existiert sie auch jetzt noch, allerdings ohne, dass er davon Kenntnis nehmen würde, weswegen er ziemlich erstaunt und neugierig und auch etwas belustigt ist. Der Mensch dort drüben trägt weiße Turnschuhe in Stiefelform, ziemlich voluminös, und dazu eine schwarze Stretchhose, die seine eher dünnen Beine ziemlich lächerlich aussehen lässt. Vor allem im Zusammenspiel mit den riesigen Sneakers. Er trägt seine schwarze Bomberjacke offen, darunter spitzt ein ebenfalls schwarzes, aber bedrucktes Shirt hervor. Blind Guardian steht da in goldgelber, verschnörkelter Schrift, darunter ein buntes Irgendwas als Motiv. Die Haare des Metalfans sind lang, zumindest vorne gehen die dünnen, glatten Strähnen bis zur Mitte der schmächtigen Brust. Er hat einen ausgebeulten Jutesack zwischen seine Beine gestellt, was er wohl darin hat? Wahrscheinlich schmutzige Wäsche für die Mama, denkt er, oder vielleicht doch Dosenbier? Seine Gedanken weichen ab, er stellt sich vor, dass Angus da drüben ein ziemlich kranker Psychopath ist, der einen abgetrennten Kopf im Beutel mit sich herumträgt; zu Hause steht auf seiner Zimmertür Leichenverwertungsanstalt oder so ähnlich; gab’s da nicht mal ein krankes Pärchen, das in Wirklich jemanden umbrachte und den Körper anschließend zerlegte? Er schüttelt den Kopf und wirft den Gedanken ab, da der Typ ihn freundlich anlächelt. Er nickt schnell und versucht, diese Geste beiläufig und cool aussehen zu lassen. Wahrscheinlich hat er einfach zu lange hinübergeglotzt und der Junge hat seinen Blick entdeckt. Na ja, denkt er, hätte schlimmer kommen können. Er hört auf, rüberzuschielen und zieht nun doch sein Magazin aus der Tasche. Mal gucken, was die in der EX als Album der Woche ausgewählt haben, denkt er, und lässt die Seiten durch seine Finger flattern.
Mittlerweile dauert die Fahrt schon eine ganze Weile und es sind nur noch zwei Haltestellen, bis er aussteigen muss. Trotzdem vertieft er sich in einen der Artikel, in dem es um die Renessaince der Vinylscheibe geht. Der Autor ist dabei der Meinung, dass die Schallplatte nie wirklich vom Markt verschwunden war, sondern sich einfach ein wenig im Schatten der Compactdisc ausgeruht und auf den Aufbruch gewartet hat. Die erste Generation, die nichts anderes als die CD kennt, denkt er, macht sich jetzt auf, ein neues altes Medium für sich zu entdecken; spätestens wenn das dicke Geld in die Brieftaschen fließt, legen sie los. Anders als er, denn in seiner Brieftasche herrscht stets ein klammes Klima. Mit seinen Jobs verdient er zwar ganz anständig, aber so richtig prassen kann er dann doch nicht. Das muss er Prinz von Anhalt überlassen, oder dieser verblondeten Hiltonerbin. Aber die würden sich bestimmt nicht für Indiemusik entscheiden, sondern schon eher für heiße Kokstrips und schlüpfrige Abenteuer. Dabei erinnert er sich an zwei seiner alten Kumpels aus der WG; die beiden schafften es noch jedes Wochenende, ihre gesamte Weggehkohle, die eigentlich für Freitag und Samstag ausreichen sollte, an einem Abend rauszuhauen und mit dem diesbezüglich sehr derben Rausch die Mädels anzutanzen und irgendwas seltsames ins Ohr zu raunen, um dann später an ihren Dekolletes einzuschlafen. Er jedenfalls war in diesen Momenten immer der schüchterne Nerd, auch wenn er ebenfalls sehr besoffen schien. Nur ein einziges Mal war er mutig genug, und dabei wundersam erfolgreich, allerdings erst Wochen nach dem ersten Gespräch auf einer der berüchtigten WG-Partys.