Denken in Bildern 3 – Extremismus der Einstellung und rationale Perspektive

05.11.2007 | 2 Kommentare | wowo101

Was dieser Extremismus sein soll, was er mit Verstand zu tun hat, und ein wenig Grammatik.
28-jährig dreht Kubrick The Killing, an der Kamera steht der 20 Jahre ältere Lucien Ballard, berühmt für seine spätere Arbeit mit Sam Peckinpah, erfahrener Kameramann, Profi. Kubricks Anweisungen sind stets klar, aber nicht immer nachvollziehbar: Ein extrem weitwinkeliges 25mm-Objektiv ordert er für die stilbildende Parallelfahrt vom Hinterzimmer zur Wohnungstür der konspirativen Wohnung – Ballard müsste die Schienen so nah am Set verlegen, dass die Beleuchtung unverhältnismäßig schwierig würde. Also nimmt er eine 50er Linse, verlegt die Kamera nach hinten und erklärt Kubrick, dass er damit den gleichen Bildausschnitt erziele. Kubrick ist fassungslos, stellt Ballard vor die Alternative, seinen Vorstellungen zu folgen oder den Dreh zu verlassen – und gewinnt. Der alte Hase Ballard wird keine Entscheidung des Anfängers Kubrick mehr in Frage stellen.

Gelernter Photograph, in kaum einer Situation häufiger photographiert als neben der Kamera, am Objektiv oder hinterm Videomonitor, war Kubrick ein Extremist der Einstellungen. Die Definition der Einstellung durch Linsengeometrie, Position und Perspektive der Kamera war der Dreh- und Angelpunkt der Arbeit am Set. Nur weil Kubrick in The Killing darauf bestand, selbst in den intimsten Einstellungen Weitwinkelobjektive einzusetzen (wiederholt und zugespitzt später in Eyes Wide Shut), sind die eingefangenen Situationen an den Rändern stets leicht verzerrt, spricht aus ihnen eine lauernde Paranoia. Das berühmteste Beispiel für Kubricks Einstellungsextremismus indes sind die Innenaufnahmen für Barry Lyndon: Um sie ohne zusätzliche Ausleuchtung bei Kerzenschein filmen zu können, ließ er eine Mitchell-Kamera demolieren, um ihr die lichtstärkste Linse vorzusetzen, die es jemals gab – eine Koproduktion von Carl Zeiss und NASA, zwei Exemplare weltweit. (Eine hübsche Fußnote ist die Theorie, Kubrick habe für die NASA die Mondlandung inszeniert und die Linse sei seine Belohnung gewesen.)

Die resultierenden Bilder sind dabei von so außerordentlicher Klarheit und Eindeutigkeit, dass nie ein Zweifel an ihrer Artifizialität besteht. Uns droht keine Überwältigung durch die Einstellung, keine Illusion über unsere Distanz zum Geschehen. Kubricks Blick – und damit unserer – ist rational, nicht affektiv, gliedernd, nicht vereinheitlichend; „wissenschaftlich“, sagt Georg Seeßlen. Kubricks Blick repliziert nicht den des Teilnehmers (außer wenn das die relevante Erkenntnisperspektive ist), sondern ordnet für uns Zuschauer Geschehen und Gegenstände: Raumgrenzen sind immer messerscharf knapp innerhalb der Bildgrenzen positioniert, Kamerabewegungen abgezirkelt, die Raumgeometrie genauso klar definiert wie die Bewegungen in ihr.

So in zwei Sequenzen aus A Clockwork Orange, die im übrigen in Plot-Kontext und Weitwinkeloptik die Fahrt aus The Killing zitieren und fortschreiben: Die identischen Parallelfahrten vom Schreibtisch des Schriftstellers Alexander zu seiner Frau (und deren Space-Sofa) und seinem Pfleger (und dessen Hantelbank), deren Weg durch den verspiegelten Gang zur Tür und die so völlig verschiedenen Auftritte Alex’ bewegen sich wie „am Schnürchen“; die Geometrie der Kamerabewegung teilt die Bilder und den Rhythmus unserer Wahrnehmung, die Unterschiede der Szenen treten umso klarer hervor, als ihre Struktur exakt die gleiche ist. Architektur, Interieur und Akteure werden von der Kamera gleichsam uns vorgeführt, nicht abgebildet. Dieser Blick macht aus den hyperrealen Räumen Kubricks am Ende „worlds so aestheticised, so overdetermined that their reality is dubious“, wie Larry Gross über Eyes Wide Shut sagt.

Spätestens mit Dr. Strangelove hat Kubrick seine Grammatik der Einstellungen etabliert. Zwei Perspektiven dominieren: der Blick von unten in die Raumecke, dessen Bewegung der Schwenk der Kamera von fixierter Position aus ist, und der Blick auf gleicher Höhe frontal in den Raum, der als Parallelfahrt der Kamera bewegt wird. Ergänzt werden sie von der Handkamera, die immer dann zum Einsatz kommt, wenn das Geschehen handgreiflich wird und wir die Perspektive der Akteure teilen sollen. Der Blick auf den wahnhaften General Ripper und die Verteidigung seines Büros in Dr. Strangelove, die Führung durch das Overlook Hotel am Ende der Urlaubssaison, die Kampfszenen in Dr. Strangelove, A Clockwork Orange und Barry Lyndon sind jeweils typische Beispiele für die Kubrickschen Blickfiguren. Stets geben sie der jeweils eingefangenen Szene ihre spezifische Bedeutung: Rippers Wahn ergibt sich nicht nur aus dem Dialog, sondern aus der Kameraperspektive der Szene, ebenso die Übermacht und raumgreifende Gewalt des Overlook Hotel. Die Einnahme der Akteursperspektive schließlich findet ihren Höhepunkt, wenn der selbstmörderische Sturz Alex’ in A Clockwork Orange aus dessen Sicht gezeigt wird – bis die Kamera am Boden zerschellt. Die Konstanz dieser Figuren über die Filme hinweg verblüfft bisweilen, aber gerade die Eindeutigkeit und Regelhaftigkeit der Kubrick-Grammatik lässt seine Filme auf einer Ebene sprechen, die weitgehend unabhängig von Plot und Dialog ist.

Wie weit Kubrick die Verkörperung der Idee durch die Perspektive getrieben hat, zeigt die Gegenüberstellung von Barry Lyndon und The Shining: Wo jener unsere (historische) Distanz zum Geschehen dadurch zeigt, dass fast jede Einstellung ein Zoom aus einem oder in ein Bild hinein ist, das dem Kanon des 17. Jahrhunderts entstammen könnte, (und damit zugleich unseren Blick auf die Vergangenheit wie das Tempo der Zeit widerspiegelt), da zieht uns dieser mit der durch die Steadycam ermöglichten fließenden Bewegung in und durch den Raum in selbigen hinein und lässt uns den labyrinthischen Charakter des Hotels fast selbst erfahren. Beides aber geschieht nicht im Modus der Vereinnahmung: Es sind wortlose Erklärungen für das Geschehen des Films, auf die wir uns einlassen, weil sie so unglaublich verlockend und so völlig einleuchtend sind. Und je öfter wir sie erleben, je besser wir sie kennen und wiedererkennen, je vertrauter wir also mit der Kubrick-Grammatik sind, desto bereitwilliger lassen wir uns auf diese Erklärungen ein. Und desto besser verstehen wir Kubrickfilme.

Und morgen zerschneidet Herr Kubrick seine Bilder: "Denken in Bildern 4 – Die Montage als Denk-Anregung"!
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Kommentare

Christian_alternakid am 05.11.2007 um 10:55 Uhr:

das trifft Kubricks bilder tatsächlich ganz hervorragend: „worlds so aestheticised, so overdetermined that their reality is dubious“.


wie du ganz richtig sagst, ist das entscheidende bei Kubrick wohl tatsächlich, dass er für einen Auteur vom Fotografieren, aber nie vom Schreiben kam.

(tolle texte, übrigens!)

wowo101 am 05.11.2007 um 12:13 Uhr:

danke für die blumen. zum thema "kubrick als auteur" übrigens mehr in folge 5: "autor, erzähler und publikum"!


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