Klassische Anekdote: Ronald Reagan tritt seinen Dienst im Weißen Haus an. Die Tour durch den künftigen Amtssitz neigt sich dem Ende zu, dabei hat er einen Raum noch nicht gesehen, und so fragt er: wo denn der
War Room sei.
Ob sie stimmt oder nicht, auf jeden Fall erfasst die Geschichte etwas Zentrales: die ungeheure Realität und Attraktivität, die die Räume in Kubricks Filmen ausstrahlen. Der War Room aus
Dr. Strangelove, die rotierende Kommandokapsel der
Discovery, die Landschaften in
Barry Lyndon, das
Overlook Hotel in
The Shining – Räume, an denen man sich nicht satt sehen kann, die man unwillkürlich betreten, begehen möchte, die eine Wirklichkeit besitzen, die alle Illusion übertönt.
Diese Plastizität verdanken sie einer Textur und Tiefenschärfe, die zum ersten Mal in Renoirs
La Règle du Jeu zu sehen war und die Kubrick so weit treibt wie niemand zuvor. Zum Beispiel in
The Shining: Die Farben, Teppiche und Tapeten des
Overlook, die ständige Bewegung in den Raum hinein, wenn wir Danny auf seinen Exkursionen durchs Hotel begleiten, untermalt vom abwechselnd rumpelnden und raschelnden Abrollgeräusch des Kettcars, der Knall und das Echo des abprallenden Tennisballs, mit dem Jack Torrance die kathedralenhafte Weite der Hotelhalle auslotet, machen den Raum fast physisch greifbar.
Dabei sind diese Räume nicht überwältigend wie bei Spielberg, wo sie einen wünschen, ja sehnen lassen, Teil des Abenteuers zu werden. Sie zwingen nicht, sie locken und verlocken, sie lassen staunen und weisen schließlich über ihre physische Greifbarkeit hinaus: Nicht lediglich Rahmen des Geschehens, aber ebenso wenig Gegenstand oder Akteur der Filme, ist der Raum bei Kubrick gewissermaßen dreidimensional gewordener Gedanke. Der
War Room ist Ausdruck des Kalten Kriegs, nicht seine Metapher. Schützengräben und Paläste sind in
Paths of Glory Orte, nicht Bilder der Macht und des Krieges. Das
Overlook ist das Labyrinth, in dem sich die Bewohner verirren, nicht ein Bild für diese Verwirrung, der Ort ist das Böse, nicht nur seine Bühne. Der Raum symbolisiert nicht den Begriff, er verkörpert ihn.
Und nicht nur den Begriff verkörpert er, auch das (Nicht-)Begreifen, ist zugleich Ort gewordener Gedanke und Ort des Denkens. Die Labyrinthe der Wohnung und der Stadt sind für Bill Harford in
Eyes Wide Shut das Spiegelkabinett der Begierden und Bedürfnisse, die er nicht fassen und beherrschen kann; das urbane Trümmerfeld Hués ist nicht der Hintergrund für das Ringen der Soldaten um Entscheidung und Übersicht in
Full Metal Jacket, sondern Ursache und Gegen- wie Widerstand dafür – „the terrain of small unit action is really the story of the action“, sagt Kubrick selbst.
Wie Kubrick schließlich den Raum benutzt, um begreifbar zu machen, was sich nicht auf den Begriff bringen lässt, sehen wir in
2001 am surrealen Salon jenseits des Jupiter, in dem sich David Bowmans Verwandlung zum
star child vollzieht: Die Höhe und Weite des Raums setzen ihn zu seinem Bewohner in ein ähnliches Verhältnis wie es Kathedrale und Kirchgänger auszeichnet – bei aller Macht und Größe, die jene verkörpert, gibt sie diesem doch nie das Gefühl, klein und hilflos zu sein, sondern aufgehoben und erhöht. Dagegen setzt Kubrick das künstliche Licht, das in einer Umkehrung der Verhältnisse aus dem Boden strömt und den Raum ebenso künstlich wie unheimlich erscheinen lässt. Das viktorianische Mobiliar ergänzt das Bild um die Vertrautheit und Distanz der Tradition, reiht Bowman in Aristokratie und ferne Hierarchien ein (und erinnert damit an die Paläste aus
Paths of Glory), nimmt endlich seine rasende Alterung vorweg, die ihn aus all diesen Bezügen befreit. So erzählt der Raum Kontext und Kausalität der Metamorphose, ohne dass Plot, Erzähler oder Einstellung zu Hilfe kommen müssen – Kubrick lässt uns Mythologie und Metaphysik des Films ohne Umweg über den Begriff erfahren.
Und beim nächsten Mal: "Denken in Bildern 3 – Extremismus der Einstellung und rationale Perspektive"