Gegengift zur Popkultur

29.11.2006 | 6 Kommentare | wowo101

Diesmal: Panzerkreuzer Potemkin (1925)
Bevor der Monat sich neigt: die fällige Ration Hochkultur. Wieder ein Film, ich weiß, aber ganz anders. Versprochen.

In praktisch jeder Liste von "Besten Filmen aller Zeiten" tummelt sich Panzerkreuzer Potemkin zwischen Citizen Kane, dem Paten und den großen Autorenfilmerwerken. Und ist jedesmal der älteste Film der Liste. Was, bitte, fragt der Laie, tut so ein Schinken zwischen lauter guten Filmen?

Basics

Der Fachmann wird antworten: "Er steht dort als erster Film, der die Mittel der Montage als Kern der Filmkunst begreift und ausschöpft. Der das sowjetische Kino nicht nur als Propagandavehikel, sondern auch ästhetisch als ernstzunehmende Größe etabliert hat. Und der aus diesen Gründen eines der ersten prominenten Opfer von Filmzensur wurde." (Danke, soweit.)

Panzerkreuzer Potemkin erzählt die Geschichte der Besatzung des Panzerkreuzers, die sich während der Revolution von 1905 gegen die Verhältnisse in der Kriegsmarine auflehnt und auf die Seite der Aufständischen schlägt. Nach einer Meuterei läuft das Schiff in Odessa ein und wird dort von der Bevölkerung begeistert unterstützt. Das zaristische Regime kann das natürlich nicht tolerieren, und nach einem Massaker auf der Hafentreppe Odessas wird die Flotte geschickt, um das abtrünnige Schiff zu stellen. Alles läuft auf eine Schlacht hinaus - bis sich die Matrosen der Flotte mit denen der Potemkin verbrüdern und in filmischem Vorausblick auf die Revolution von 1917 unter der roten Fahne vereint sind.

Panzerkreuzer Potemkin war bei seinem Erscheinen ein voller Erfolg. In Deutschland kam der Film trotzdem nur gekürzt ins Kino, zu politische Szenen und zu brutale Einstellungen waren geschnitten. Dennoch wurde er als jugendgefährdend eingestuft und zum Teil boykottiert. In der Sowjetunion ging es ihm nicht viel besser: Das stalinistische Regime ersetzte das von Trotzki stammende Motto zu Beginn und etliche Zwischentitel duch linientreuere Texte. Die originale Filmmusik galt seit 1930 als verschollen, und schließlich war der Film nur noch in einer verstümmelten Fassung und mit neuer Musik unterlegt zu sehen.

Auf der Berlinale 2005 hatte dann (endlich, sagen die einen, unnötigerweise, sagen die anderen) eine vollständig wiederhergestellte Fassung des Films Premiere, inklusive einer neuen Orchestrierung der Original-Filmmusik von Edmund Meisel, die in Klavierauszügen erhalten geblieben war. Dieser Film ist seither mit dem Babelsberger Filmorchester (i.e. live) auf Deutschlandtournee.

Faszinosum

Ein Stummfilm (schwarz/weiß), grimassierende Darsteller, ideologische Propaganda, ein pathetischer Schluss. Einerseits. Der meistzitierte Film der Filmgeschichte, das Standardbeispiel zur Illustration der Montagetheorie, ein Meilenstein der Filmtechnik. Andererseits. Also geht man hin und denkt an den Fachmann, an Zitate der Treppenszene in The Untouchables und Brazil, an neoformalistische Sequenzanalysen, an den frühen Kritikersatz vom "gültigen Menschenwerk". Und erwartet einen typischen "Klassiker", einen Ausflug in die Filmgeschichte, ein Werk für's Filmseminar.

Was aber passiert ist: Die Meiselsche Filmmusik elektrisiert einen vom ersten Takt an. Die Lücke zwischen stummem Film und blinder Musik verschwindet binnen Minuten - und macht dem Gefühl Platz, die Töne seien Teil der dargestellten Welt, Ausdruck der Emotionen, nicht ihr Bild. Das Hissen der roten Fahne treibt einem Tränen der Freude in die Augen, die Treppenszene solche der Wut. Und am Ende fiebert man inmitten von Maschinendonner, musikalischer Raserei und aufs Äußerste gespannten Matrosen der Begegnung mit der Flotte entgegen, krallt sich in die Armlehnen, hält die Luft an - und wird zitternd, aber glücklich vom Hurra der Verbrüderung erlöst. Und statt mit gereckter Faust aufzuspringen, klatscht man frenetisch (Übersprungshandlung).

How to

Fachmann hin oder her, plötzlich ergeben dann auch die Eisensteinschen Theoriefragmente einen Sinn:

Die "Montage der Attraktionen", das Aufeinanderprallenlassen von Sinneseindrücken, wirkt tatsächlich wie eine filmische Simulation alltäglicher Wahrnehmung: Aus Ausschnitten der "Wirklichkeit" konstruiert der Zuschauer unwillkürlich Bedeutung und Emotion. Man identifiziert sich auf eine beinahe körperliche Weise mit den Protagonisten, man empfindet Wut, Trauer, Spannung aufgrund von Gesten, Bewegungen und der Montage von deren Bildern, und man empfindet sie direkt, fast begriffslos. Kein Beobachten, Nacherzählen, sondern ein aktives Kalkulieren und Auslösen von Reaktionen: So arbeitet Eisenstein (und ist damit der äußerste Gegensatz zu Tarkowskij).

Aber auch: Der "Kinematograph der Begriffe", der über die emotionale Reaktion hinaus zur Reflexion zwingen, Dialektik konkret machen und ins Bild setzen will. Nicht überrumpelt, hinters Licht geführt werden soll der Zuschauer bei aller Macht der Eisensteinschen Montage: Sondern aufgeregt, angeregt, aufgeklärt. Das Kino ist für Eisenstein ein Instrument der Agitation - Agitation als In-Bewegung-Setzen des Nachdenkens über gesellschaftliche Realitäten und über die dahinter liegenden Strukturen.

Es gibt diese eine Schlüsselszene, in der sich alles zur Rebellion wendet, und die alle Eisensteinschen Ideen bündelt: Ein Matrose liest beim Spülen "Unser tägliches Brot gib' uns heute" auf einem Teller, erkennt die Lüge: keiner kümmert sich um unser tägliches Brot, und er zerschmettert den Teller voller Wut. Diese Erkenntnis wird uns gezeigt in wenigen, aber krass geschnittenen Einstellungen: Der Matrose liest die Worte auf dem Teller, er stutzt, dreht den Teller weiter, liest weiter, hält inne - und dann hebt er den Arm, schmettert, holt aus, setzt an, zerschmeisst, hebt an, und zertrümmert endlich und noch einmal den Teller.

Genau darin liegt die Größe von Panzerkreuzer Potemkin: Wir spüren im Blick des Matrosen seine Wut, im Zertrümmern des Tellers die Verzweiflung und den Beginn des Aufruhrs, sind bestimmt von den Eindrücken, die uns entgegengeschleudert werden. Aber gleichzeitig sehen wir einen Bewegungsablauf, der so nicht stattfinden kann. Und genau damit öffnet sich zwischen den Emotionen der Spalt, der eine Distanz zum filmischen Geschehen herstellt und die Reflexion herausfordert.

Die Interpretation der Bilder auf ihren politischen Gehalt hin bringt uns der Film selbst bei, damit er diese Reflexion dann agitatorisch nutzen kann. Wenn später im Film ein steinerner Löwe liegt, sich erhebt und brüllend steht, wissen wir, dass wir die Montage dreier Standbilder sehen. Aber wir wissen auch, was sie bedeutet, und wir empfinden das nicht als abgehobene Symbolik, sondern als ein gültiges Bild der Revolution.

Und?

Auf dem Heimweg wundert man sich darüber, was ein Stummfilm so anstellen kann. Man fragt sich, wie er sich im Wohnzimmer, ohne Live-Orchester anfühlen würde. Nimmt sich fest vor, ganz ohne Fachmann, mehr alte Filme neu anzusehen. Und man sinnt tatsächlich über altmodische Begriffe wie Solidarität und Brüderlichkeit nach. Man fühlt sich im besten Sinne agitiert: bewegt.

Tendenzkunst? "Schlechte Tendenzkunst gibt es sonst genug. Dieser Film aber ist ideologisch ausbetoniert, richtig in allen Einzelheiten kalkuliert wie ein Brückenbogen. Je kräftiger die Schläge darauf niedersausen, desto schöner dröhnt er. Nur wer mit behandschuhten Fingerchen daran klopft, der hört und bewegt nichts." hat Walter Benjamin zum Panzerkreuzer Potemkin gesagt.

Veranstaltungshinweis

Für den Film in seiner verstümmelten Fassung muss niemand Geld ausgeben: Die gibt's hier. Ansonsten wird dringend empfohlen, ihn sich live anzusehen, wenn das Babelsberger Filmorchester in der Nähe vorbeikommen sollte.
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Bewertungen

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Kommentare

kaThr!N am 30.11.2006 um 12:24 Uhr:

Schön - ein Grund mehr, das jetzt endlich mal zu anzuschauen. Man sollte sich eh viel öfter Stummfilme ansehn.

"Die originale Filmmusik galt seit 1930 als verschollen, und schließlich war der Film nur noch in einer verstümmelten Fassung und mit neuer Musik unterlegt zu sehen."
Soweit ich mir das irgendwann mal ergoogelt habe hat Herr Eisenstein es sich sogar gewünscht, dass sich jede Generation ihre eigene musikalische Interpretation dazu schafft. Ohne den Film gesehen zu haben find ich die PSB-Vertonung (danke Motor) auch gar nicht schlecht. Will sagen man kann sich vorstellen dass das bei so nem Film funktioniert.. also.. lassen wir das.

wowo101 am 30.11.2006 um 13:05 Uhr:

eben jene vertonung hätte ich hier in hamburg live im stadtpark sehen/hören können, aber verpasst... schande, sowas.

motorhorst am 30.11.2006 um 13:30 Uhr:

Wobei man sagen muss, dass die Nachvertonung von Stummfilmen mit zeitgenössischer Musik eh ein weites, nicht allzu regelmäßig beackertes Feld ist. Habe mal den Potemkin-Soundtrack zu Metropolis laufen lassen bei so nem Pseudo-Kunst-Event und muss mit Mustafa Üglü sagen: "Schmeckt auch gut!"

wowo101 am 30.11.2006 um 15:04 Uhr:

feine idee. da könnte man ja so einiges anstellen: zum beispiel "oktober" gegen "birth of a nation" antreten lassen. kleiner krieg der gründungsmythen.

Christian_alternakid am 30.11.2006 um 20:00 Uhr:

ich selbst kenne ja nicht einmal die PSBvertonung, ärgere mich aber immer noch, nicht diesen liveauftritt in dresden diesen sommer gesehen zu haben.

zum film: selbstredend unverzichtbar. schauen und lernen wie film funktioniert.

wowo101 am 06.02.2008 um 15:23 Uhr:

jetzt (endlich!) auch in der restaurierten fassung auf dvd. (siehe amazon.de. den motor reich machen!)


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