"MTV Makes Me Wanna Smoke Crack" sang Beck bereits 1993 und natürlich ist die Ablehnung des Musikwerbesenders relativ leicht nachzuvollziehen, besonders aus heutiger Sicht, wenn man mit einer Mischung aus Entsetzen und Schadenfreude auf den Trümmerhaufen guckt, der von dem einst visionären Senderkonzept übrig geblieben ist. Aber...
Anfang der 90er, wir befinden uns immer noch in der Prä-WWW-Zeit, war nach einer kurzen Phase mit Sendern wie Sky Channel aus England und deutschen Pendants wie der musicbox (später: Tele 5) irgendwann selbst in Bayreuth MTV Europe zu empfangen und schnell nicht mehr als ständiger Tagesbegleiter wegzudenken. Während am Nachmittag Ray's Request bzw. MTV's Most Wanted für Kurzweil sorgte, verschafften einem Genre-Sendungen wie "Headbanger's Ball" oder "120 Minutes" neues Material aus Sparten, die eher ein Nischenpublikum als Zielgruppe hatten. Aber auch außerhalb dieser Perlen liefen oft gute Videos und viele Jahre vor Handy-Klingeltönen konnte der Fernseher ohne große Bedenken immer auf "an" (und natürlich "Kanal 15", also MTV) stehen.
1995 wurde das Format "120 Minutes" durch "Alternative Nation" abgelöst, was lediglich als eine Umetikettierung wahrgenommen wurde, denn der Fokus lag hier wie dort auf eher subkulturellen Indie-Themen. Ungefähr zur selben Zeit lief auf einmal ein deutschsprachiger Song in dieser neuen Sendung. Nach einem zaghaften Geschrammel auf der Akustikgitarre, das noch gut von z.B. Pavement hätte stammen können, setzte der Gesang ein und ließ aufhorchen bzw. alle Aufmerksamkeit auf den Fernseher und das gezeigte Video richten: "Sie hat zwei Beine / Und sie hat zwei Augen / Und aus denen kann sie schauen / Und sie schaut zu mir". Hingeschrieben klingt das genau so lo-fi, wie der Song bzw. das Video in diesem Moment herüberkamen.
"Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk" hieß der Song, wie Musikkennern bereits klar ist (und auch Menschen, die z.B. den Titel von Texten wie z.B. dem gerade gelesenen lesen) und er stammte von der mir bis dato unbekannten Band Tocotronic aus Hamburg. Der Sänger, ein schmaler Junge mit asymmetrischer Frisur sitzt in einem Schlafanzugoberteil am Küchentisch und singt den Song während er sich selbst dazu auf der Gitarre begleitet und das besungene Indiemädchen mit den zwei Augen zu den Klängen aus dem Schlaf erwacht und versonnen Richtung Küche lächelt. Bereits in dieser Eingangsszene bündelte sich die Art und Weise, wie wir fortan leben wollten.
Aber irgendwie war das dann doch nicht so ganz die Manic Pixie Dream WG, wie es zunächst schien, sondern eigentlich sitzt der Sänger, also Dirk von Lowtzow, inzwischen in das ikonische "Elektro Vetter"-Shirt gehüllt mit seinen beiden Bandkollegen Jan Müller (mit der ebenso stil- und epochenprägenden orangen Adidas-Trainingsjacke) und Arne Zank (im nicht minder stylischen Parka) an besagtem Tisch und sie spielen den Refrain "Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk", den wir so oder so ähnlich zu dieser Zeit auch immer vorwurfsvoll hörten (wenn auch nicht mit "Dirk" am Ende, es sei denn, wir hießen damals so), im Jahre 1 nach Kurt Cobain. In dieser zweiten Szene fasste Tocotronic also genau zusammen, wie wir damals tatsächlich lebten.
Dann gibt es noch mehr Trainingsjacken und Retro-Logos und das Mädchen wieder im Zimmer, aber nie mit Dirk zusammen, nur in so einer Art Traumsequenz, also wohl nicht wirklich und im Hintergrund sind so liebevolle Details wie ein Godzilla/Frankenstein-Poster an der Wand oder einer M&M-Figur und einem Sandmännchen auf der Fensterbank und Band-Auftritte in dunklen Kellern oder eher spärlich besuchten Clubs. Und dann dieses Gitarrensolo, to end all gitarren solos, das aber eher eine verzweifelte Parodie auf ein echtes Solo ist. Und dann spielen Dirk und das Mädchen doch irgendwie zusammen Pong, im Bett sitzend, also vielleicht ist es ja doch eine fröhliche Geschichte, mit gutem Ende und die "Nevermind" wird aufgelegt und ein "Reservoir Dogs"-Poster hängt an der Wand. Am Ende steht es 5:7.
Ich habe mir die CD nicht sofort gekauft, sondern wie ich es damals zu tun pflegte, überspielte ich den Song von der VHS-Kassette, mit der ich jede Woche Alternative Nation aufgenommen hatte, auf eine Audio-Kassette, die mich dann die nächsten Wochen im Auto beschall. Das erste Album "Digital ist besser" und auch die kurz danach veröffentlichte EP "Nach der verlorenen Zeit" hielten wir noch ein paar Mal im Drogeriemarkt Müller in der Hand, uns immer über die langen und verschrobenen Titel amüsierend: "Michael Ende, Du hast mein Leben zerstört", "Die Idee Ist Gut, Doch Die Welt Ist Noch Nicht Bereit", "Über Sex Kann Man Nur Auf Englisch Singen", "Ich Muss Reden, Auch Wenn Ich Schweigen Muss". Dann wurde aber natürlich alles gekauft.
Tocotronic ist eine Band, die auch heute, 20 Jahre später, ein wahnsinnig wichtiger Bestandteil meiner musikalischen Sammlung, des Auflege-Repertoires und des ganzen popkulturellen Sinns und der Identität ist. Zusammen mit nur ganz wenigen Acts steht die Band im Fach "Können machen, was sie wollen, werden mich nie enttäuschen". Und haben sie halt auch noch nie. Zudem besteht Tocotronic bis auf die Hereinnahme von Rick McPhail als zweiten Gitarristen (auch schon seit über 10 Jahren offiziell in der Gruppe) immer noch aus den Original-Mitgliedern, was in dieser Zeit des Wandels und der Unstetheit....okay, jetzt wird es echt albern.
Was für eine Band. Was für ein Song und ein Video. Auch nach 20 Jahren noch.
Hammer-Anekdote über das Elektro Vetter-Shirt aus dem Video:
Die habe ich gestern auf Facebook gelesen, weil sie ein befreundeter Journalist als Kommentar zu einer seiner Freundinnen gepostet hat (mit der ich aber nicht befreundet bin), die ebenfalls "Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk" als Song des Tages postete. Ich habe gerade fast eine Stunde lang die Facebook-Timeline durchsucht, sämtliche idiotischen Sortierreihenfolgen geändert und Google versucht oder auch die so genannte Suche, die noch nie etwas gefunden hat. Ich habe keine Chance, den Text wieder zu finden. Ich hasse Facebook, wie es konsequent Inhalte versteckt und nach irgendwelchen Regeln durcheinander mischt, die kein Schwein nachvollziehen kann oder will. Ich sehne den Tag herbei, wenn man auf einer Webseite mal wieder eine Rückmeldung zu einem Text bekommt und nicht aus Profilierungssucht oder einfach nur wegen des guten Gefühls, wenn eine Stunde schreiben mit einem oder zwei "Likes" belohnt wird, auf Facebook angewiesen ist.