Regelmäßig schaue ich, welche Konzerte Die Nerven planen, da ich diese Band verehre, seit ich sie zum ersten Mal schauen durfte, vor allem aber, weil ich die Anzahl meiner Konzertbesuche dieser Gruppe in ungeahnte Höhen schrauben möchte (Leistungsgesellschaft!) und sie mir aber auch nie langweilig wird und ich noch nie ein schlechtes Konzert von ihr erleben durfte. Zum Glück kenne ich nun MAR und der Druck liegt nicht mehr bei mir, wer die Nerven am häfigsten gesehen hat - vor allem in noch kürzerer Zeit - kann ich diesen kommoden Vorsprung (21:16 ist die Bilanz nach der Freitagspartie, wie bei einem guten Tischtennismatch, in dem der Unterlegene - also ich - lange gut mithalten konnte) ohne leistungssteigernde Substanzen sowieso nicht mehr aufholen.
Redbox Festival. Dingolfing. Diese beiden mysteriösen Begriffe kündigten den einzig machbaren Termin in der Spring/Summer-Sequenz des ewigen Konzertzirkus an. Freitagabend? Kann man machen! Los geht's.
Dingolfing liegt südöstlich von München, man muss aber nicht unbedingt komplett über die A9 anreisen, sondern bequem über Regensburg und damit auf weitaus weniger befahrenen Wegen (vgl. Thoreau). Bei einer ähnlichen Entfernung wie München selbst, ist man in gut 2 Stunden da, also gar nicht so wild.
Da dort noch NIE ein Konzert war (klingt übertrieben, aber ich glaube wirklich nicht, dass ich schon mal auf dem Tourplan einer mich interessierenden Band oder Künstlerin diesen Ort gelesen hätte) und der lokale Fußballklub nie über die Landesliga Süd/Mitte/Südost hinausgekommen ist, gab es bisher nicht den Anlass für einen Besuch. Nach Verlassen der Autobahn (der Routenplaner redet von Dingolfing West, die Ausfahrt ist aber Dingolfing Mitte - auch dieser Fehler eine Irritation, die auf einen tatsächlichen Standort in der Twilight Zone hinweist), zeigt sich schon nach kurzer Zeit die ganze Tragik der altbayerischen Normalität: Ein gewaltiges BMW-Werk wurde von der CSU in die Prärie gepflanzt und ein fiktiver Ort darum drapiert, den man in einer Bierschnapslaune "Dingolfing" (also ganz im Ernst, hat da keiner mehr drüber gelesen?) nannte.
Kleiner Einschub: Mir ist schon klar, dass ich in Bayreuth da auf einem verdammt hohen Ross sitze, über andere Orte zu urteilen - wenn ich damit 2 Stockwerke im Lastenaufzug (der auch Pferde befördern kann) hochfahre, dann bin ich schon fast im Erdgeschoss. All das bitte nie vergessen (McCoy!) bzw. immer im Hinterkopf behalten, ihr Lokalpatrioten/idioten.
Laut Karte soll der Einlass um 18 Uhr, der Beginn um 19 Uhr sein, klar, dass das nicht stimmen konnte, ein Anschlag an der Stadthalle (Stadthalle! Geht schon los...) verkündete eine Verschiebung um eine Stunde, die mir die fußwärtige Erkundung der Innenstadt (mir sind leider die Anführungszeichen ausgegangen, sorry) ermöglichte. Wie im Süden des Bundeslandes üblich, sind hier alle Wege aus purem Gold. Um das BMW-Werk wurden bereits mehr als dreimal so viele Straßen gebaut wie notwendig, die dann immer wieder nach vollkommenem Chaos-Prinzip von ein- auf zweispurig und wieder zurückwechselten, mal kam links ein Fahrstreifen dazu, mal verschwand rechts einer. Da mich die Fahrerei so mürbe gemacht hatte, war ich nun sehr dankbar, nur von Ampeln, die im 10-Sekunden-Takt von Fußgänger auf Autos vor- und zurücksprangen verwirrt zu werden.
Um 18:01 Uhr war kein einziges Geschäft in der Innenstadt mehr geöffnet, was aber kein Problem war, da hier auch keine Menschen lebten, zumindest keine, die auf den Straßen und Wegen unterwegs gewesen wären. Auch vor dem Asia-Imbiss, der zwischen dem Chinesen und der Sushi-Bar lag, war niemand zu sehen. Ich ging durch Gassen und Seitenstraßen, die wie Fußgängerzonen wirkten, wäre nicht immer mal wieder ein Auto um die Ecke gekrochen, um sich wie selbstverständlich einen Weg durch die nicht vorhandene Menge zu bahnen.
Urplötzlich tat sich eine Röhre rechterhand auf, die architektonisch die Anmut einer Parkhauszufahrt oder eines Alpenpasstunnels hatte, ein Wegweiser wies in die "obere Stadt". Ich folgte ihm.
Aber auch dort die maximale Kulmbachhaftigkeit mitten in Niederbayern: Sinnloskreiselpflaster, vollgeparkt, Biergartenschilder, Finanzamt, privater Parkplatz, keine Menschenseele, hinter einer Mauer führt eine Treppe etwas 50 Meter nach unten bzw. zum Kaufland wie die Karten-App anzeigt, welches aber wohl zwischen den Bäumen und Elfendörfern verborgen lag. Ich weiche schnell zurück.
Der Weg zurück führt nach unten durch verwinkelte Wege, die zwischen malerisch-mediterranem Ambiente und "wir sind schon lange hier weg, viel Glück!" changieren, kurz glaube ich den Flair von Dubrovnik zu erspüren und schaue flehend in den Himmel, ob sich nicht ein Drache erbarmen möge, um diesen Ort von der Landkarte zu tilgen und so mit einer Fontäne aus Fegefeuer halsseitig dem Elend ein Ende zu bereiten. Ergebnislos.
Das alte Dilemma in Bayern
Imbiss. Gratis.
Symbolbild: Dingolfing rockt
Warum war ich noch mal hier? Richtig, zurück zur Stadthalle.
Es ist niemand da. Es geht in 30 Minuten laut Plan los. OK, es sind vielleicht 30 Leute. Die Stadthalle, also der Saal, ist riesengroß. Die Bühne ist höher als die Mauer im Norden, also mindestens 3 Meter, d.h. ca. 1,20 m. Der Saal ist an den Rändern bestuhlt. Dazu stehen Tische zwischen den Stühlen. Es gibt Bistrotische. Vor allem im hinteren Bereich, aber die Jugend wird sich auch nicht zu schade sein, einen dieser Stehtische direkt vor die Bühne zu tragen, bzw. bei jedem Song 15 cm weiter vor zu schieben, um schließlich fast mit dieser zu verschmelzen, in den Pausen (also Songs) wird Wein getrunken.
International Music (letztes Jahr z.B. im Musikexpress Album des Jahres), Friends of Gas und Die Nerven - also zwei meiner absoluten Lieblingsbands der letzten 3-5 Jahre. Was. Für. Ein. Lineup. Gut, ich habe die Nerven zuletzt zweimal im Heimspielmodus (Schorndorf/Esslingen) gesehen, wo sie jeweils vor vollen Häusern gespielt haben, aber selbst in Nürnberg ziehen sie inzwischen weit über 200 Besucher an. Hier, wo es - Fenster auf, damit ich mich GANZ WEIT hinaus lehnen kann - ÜBERHAUPT NICHTS gibt und NIE EINE BAND SPIELT, verirren sich am Ende vielleicht 100 Leute zur Veranstaltung und ich nehme mal an, 30 davon waren Presse und Fotografen.
Nichts gegen das Publikum, das sind alles gute Leute, man sieht es an den T-Shirts und Accessoires: Warp, Sonic Youth oder Joy Division lese ich dort. Man ist allgemein etwas älter und hat eine Vinylsammlung im Wert von mehreren Kleinwagen, das sieht man schon an den Schläfen. Nicht jeder kennt die Bands hier, aber die Anteilnahme und Freudebekundungen sind ehrlich und anhaltend, es gibt keinen Assel-Pogo und für alle Klischee-Freunde gibt es auch zwei jüngere Besucher mit vollbuttonierten Jeansjacken, die Sabaton bzw. Slipknot auf ihren Rückseiten verkünden, mein Gott, ich komm doch auch vom Brunzland, ich war doch auch mal jung, ich sag nur: I feel you, ihr gründet gerade in diesem Moment Bands und tragt das Bandana und die Children-of-Bodom-Sammlung morgen zum Second-Händler und seid hiermit offiziell geheilt.
Ich will mich noch drüber aufregen, dass nicht mal ein verschissener Münchner Hipster mit dem Koks-Taxi, das eh wieder Richtung Tschechien fährt, hier raus kommt, sehe aber dann auf der Heimfahrt, dass es doch 100 km bis Minga sind, also ihr seid entschuldigt (für sooooo vieles), aber das ganze Umland echt nicht.
Mir ist klar: Das hier findet heute zum ersten und letzten Mal statt. Das kann sich nie rechnen. So viele Fördergelder kann es auf der ganzen Welt nicht geben. OK, hier wahrscheinlich schon. Zur Not muss halt der Maschinenring noch einen 1000er drauf legen.
Dann geht der MC auf die Bühne und begrüßt uns alle zum ZEHNTEN Redbox-Festival. Das sind also keine Anfänger. Überhaupt sind hier sehr viele, ältere Personen tätig, das fiel schon beim Einlass auf. Das ist eher Feuerwehrjubiläum als "die 3 versprengten Nerds erfüllen sich den Lebenstraum", aber das macht das alles noch absurder, surrealer, unwirklicher. Noch einmal der Hinweis auf den kostenlosen Gehörschutz, Auflagen nimmt man ernst und apropos kostenlos: Hier ist alles kostenlos. Ich parke direkt hinter der Stadthalle. Gratis (innerhalb der Markierungen). Auf den Stehtischen im Foyer steht eine feinste Auswahl an Broten mit verschiedenen Streichauflagen. Einfach so. Kostenlos.
International Music betreten die Bühne und deren mehrfach gebrochene Ironie, die bei der Band-Optik beginnt aber lange nicht endet, geht hier natürlich ob der äußeren Umstände komplett verloren. Aber: Macht nichts. Der Sound ist okay und es macht Spaß zuzuhören und vor allem zuzuschauen, weil - wie alle 3 Acts des Abends - hier mal wieder der Ethos zählt, der in meiner persönlichen Ehrometer-Liste ganz oben spielt: Egal ob für 30 oder 3000 Besucher wir geben alles und belohnen die, die da sind anstatt die Nichtanwesenden zu bestrafen (was diese ja auch nicht mitkriegen würden, man!).
Trotz der Begeisterung von Fachpresse und Freunden konnte ich der Band auf Platte nicht übermäßig viel abgewinnen, würde ich mir aber jederzeit wieder live anschauen. Gleiches Setup wie die Nerven, also Gitarre-Bass-Schlagzeug mit zwei unterschiedlichen Sängern, die sich mitunter auch gegenseitig ergänzen, aber auch ganz anders. Musikalisch-Performance-technisch wie beschrieben mehrfach um die Ecke augenzwinkern-tongue-in-cheek mit Skills und Groove und Verve. Die einzige Zugabe des Abends wird erstaunlicherweise vom Opening act gegeben und gefeiert. Like.
Friends of Gas kommen nach gefühlt ganz kurzer Pause auf die Bühne und spielen abermals ein mitreißend-hypnotisches Set. Jedes Mal, wenn ich an das erste Konzert, das ich von ihnen als Vorband der Nerven im Münchner Strom zurückdenke und mir die Egalheit, die ich damals empfand, ins Gedächtnis zurückrufe, schäume ich vor Wut über meine Ignoranz und Nichtwissen, denn das ist einfach eine großartige Band, der man gerne zusieht und die einen in den Bann zwingt auch und gerade wegen ihrer minimal-bis-nicht-vorhandenen Interaktion mit dem Publikum. Womit sie heute dem Bartel die Sahnekrone aufs Pferd setzt: Die Setlist besteht zum Großteil aus Non-Album-Tracks und B-Seiten, vom bisher einzigen Longplayer "Fatal schwach" werden nur zwei Stücke gespielt, vor allem verzichtet man auf die beiden Überhits "Saurer Schnee" und "Kollektives Träumen", Hut ab, das muss man sich auch erstmal trauen. Und: Es funktioniert halt trotzdem, weil sich abseits der Platte
so viel interessantes Material angesammelt hat, man suche bei Bandcamp nach der "Tape"-EP und bei YouTube nach Live-Versionen von Krachern wie "Stechpalmenwald", "Abwasser" oder "Graue Luft". In der Bandweltrangliste weiterhin in den Top Ten.
Liebs: Friends of Gas
Die Nerven bauen länger um, vor allem wird die Bühne künstlich verkleinert, wie immer steht Kevins Drumkit direkt hinter den Gitarrbassisten, FAKE auf der Bassdrum neben dem neuen Aufkleber des jovialen Fanklubs "Nervenbündel", bei den vorhergehenden Acts standen die Trommeln eher so 2,5 km hinter dem Bühnenrand, ungefähr bei der Autobahnausfahrt Dingolfing-Mitte.
Ich stelle mich direkt vor die Bühne, recht zentral und mir wird schlagartig klar, wie lange das schon nicht mehr bei den Die Nerven möglich war, weil es inzwischen sehr viel gedrängter ist als damals zusammen mit Messer im Club Stereo 2012. Nach zwei Stücken bereue ich es fast, es klingt gar nicht gut, es klingt sehr nach Stadthalle und ja, der Grund könnte eventuell sein, dass es eine Stadthalle ist. Das ist so seltsam und wird noch dadurch überhöht, das aufgrund der zuletzt als Standard etablierten Setliste zwei der großartigsten Stücke der Bandhistorie Niemals/Frei für mich leicht zerstört werden. Zum Glück wird es danach viel, viel besser und spätestens zwei Songs später wünschte ich auch schon wieder ich wäre ein Schrapnell. Es ist so eine gute Band. Es gibt keine Überraschungen bei den gespielten Stücken, aber das ist alles sowieso perfekt. Das Geniale ist ja: Man könnte sich eine alternative Tracklist zusammen schreiben, mit den ungespielten Songs und auch das wäre ein kaum besiegbares Erlebnis. Gegen Ende von "Der letztende Tanzende" kommt zudem FoG-Drummer Dizzy Errol auf die Bühne und beendet das Stück zusammen mit Kevin Kuhn, der sich so einer kurzen Mayhem-Hommage widmen kann. Als letzten Song gibt es das unzerstörbare Angst und auch hier spielen die beiden Drummer das Stück gemeinsam.
Ich fahre danach heim und falle um 3 Uhr ins Bett und tagelang fragen alle "Warum?" und ich schaue sie an, wie sie mich anschauen und frage "Was habt ihr denn am Freitag abend gemacht?" und dann verstehen sie es.
Christian_alternakid am 21.05.2019 um 09:24 Uhr:
Scheint mir, als würdest du hier ein neues Genre erfinden: die Gonzo-Konzertkritik ohne Drogen.