Eine eigene Geschichte aus reiner Gegenwart

16.09.2014 | 0 Kommentare | motorhorst

Blumfeld spielen 20 Jahre nach seiner Veröffentlichung ihr zweites Album "L'état et moi" in Originalbesetzung live - 7 Jahre nach der Abschiedstour und Auflösung der Band. motorhorst.de war in München und Berlin.

Ein Konzertbericht mehr, nachdem schon das komplette Feuilleton mit Blumfeld-Berichten vollgeschrieben wurde, da jede Gästeliste mit einem Kommentar zu vergelten ist, der Jochens Ansagen und Zwischentöne auf Ironie abklopft und durch Zitieren der immer gleichen Stellen aus den Blumfeld-Interviews in den Musikzeitschriften der letzten 2 Monate wie ein einziger Text wirkt? Right!

 

L'état et moi war tatsächlich vor knapp 20 Jahren mein Einstieg ins Thema Blumfeld und Hamburger Schule. So ist es zumindest in meiner Erinnerung und die alte handschriftliche Liste mit meinen Musikkassetten weist für Blumfeld die Nr. 199 aus, während Tocotronics "Nach der velorenen Zeit" erst auf Kassette Nr. 268 (als B-Seite von "Lauschgift") auftaucht. Woran ich mich eher erinnere ist der ganz schwere Zugang, den mir das Album bereitete. Wir hatten damals ja so kurz nach dem Krieg nichts, vor allem keine deutschsprachigen Texte. Die Quatsch-NDW und der Funpunk der Hosen/Ärzte war zwar irgendwo präsent, aber nicht wirklich relevant. Die echte Neue Deutsche Welle hingegen kam erst knapp 10 Jahre später ins Bewusstsein, als Teipels "Verschwende Deine Jugend" diesen blinden Fleck deutscher Pop-Geschichte sichtbar machte.

 

ABER: Es war auch die Zeit, lange bevor Musik in unermesslichem Ausmaß immer verfügbar war und jedes schwierige Werk einfach in die Ecke gefeuert werden konnte, weil ja noch 268 andere neue Platten da waren. Also hat man sich CDs tatsächlich erschließen müssen, um nicht zu schreiben: Man hat sie sich erhört. Schließlich kosteten die Dinger damals um die 25-30 Mark und oft konnte man nicht mal vorher reinhören, weil die Jewel Cases mit einer Welt aus Cellophan umschlossen waren und die Mitarbeiter des Musikmarkts keine Erlaubnis oder Lust hatten, die Dinger zu öffnen (denn sonst hätte sich kein echter Fan mehr die CD gekauft, da echte Sammler auf den mint-Status bestanden). Ergebnis: Über neue Platte in Magazin gelesen, Geld zusammen gespart, Scheibe gekauft und wenn sie nicht sofort gekickt hat, dann wieder und wieder UND WIEDER UND WIEDER gehört, bis es zoom gemacht hat. So auch mit Blumfeld. Irgendwann hab ich dann nicht mal mehr das Spoken Word Stück geskippt. Glaube ich. So weit zur Vorgeschichte.

 

Als nach dem Hubschrauber-Intro, das "Draußen auf Kaution" einleitet, Bohlken Distelmeyer und Rattay wieder auf der Bühne stehen bzw. sitzen, ist man froh, die alten Stücke noch mal bzw. teilweise sogar zum ersten Mal live zu hören. Da meine Blumfeld-Konzertbesuche nämlich alle nach 2000 stattfanden, waren bei den beiden Auftritten in München und Berlin etliche Stücke Live-Premieren für mich. Bis auf ein Distelmeyer-Solo- und zwei "Old Nobody"-Stücken stammte nämlich die komplette Setlist vom Debüt "Ich-Maschine" und dem eingangs genannten Zweitling, der den Anlass für Wiedervereinigung und Konzertreise darstellte.

Der ein oder andere Verspieler oder verpasste Einsatz war da vielleicht dabei, aber hey: Dasselbe könnte man auch über jedes andere Konzert sicher sagen, nur kennt man das Oeuvre von Blumfeld eben viel viel besser, da man die 6 Langspielplatten in den letzten 22 Jahren unzählige Male gespielt und gehört hat, wenn man nicht unter einem Stein lebte. Deswegen wird in den hunderten Konzertberichten, die sich in diesen Tagen in den Feuilletons der Nation wiederfinden, gerne auf diese kleinen Lapsus (langes u) eingegangen. Und natürlich auf die Ironie. Denn Blumfeld sind ja weiß Gott wie ironisch.

 

Wenn in München JD in das lange ausklingende Instrumental am Ende von "Draußen auf Kaution" die Begrüßung "Servus Minga!" einbaut, dann muss das einfach ironisch sein, was denn sonst? Also ich würde sagen: Real (englisch aussprechen) und geil. Aber jeder, wie er meint. Schließlich hieß es dann ja im Astra Kulturhaus an gleicher Stelle eben nicht "Juten Taaaach, Balin! Palim Palim!". Das wäre vielleicht Ironie gewesen. Oder Quatsch.

"Aber, aber...", hör ich es da schon aus der Adler Triumph schallen "was ist denn mit der Verwendung von abgeschmackter Jugendsprache, wenn Jochiboy z.B. stark sagt oder spitze oder vom freshen Sound der 2 Jahrzehnte alten L'état et moi spricht?". Ach, mir doch wurscht, was ihr da drüber denkt. Ich finde das - ja, sorry, aber so sieht es nun mal aus, Damen und Herren - spitze!

 

Vielleicht doch mal was über die Musik und Konzerte? Alright, folks. Was einen wirklich überrollt, ist die Wortgewalt und Textmasse, die einem in beiden Auftritten begegnet. Die ersten sechs gespielten Songs stammen jeweils aus den ersten sieben Stücken von "L'état et moi" und wie einem da etwa in "Eine eigene Geschichte" oder "Ich - wie es wirklich" Strophe um Strophe um die Ohren gehauen wird, stakkatoartig, wie - ja, hallo lieber Duden, Band 23 "Das Klischeewörterbuch" - eine Maschinengewehrsalve nach der anderen, da passiert es: Zum ersten Mal kapiere ich die so oft gehörten Verweise auf HipHop im Zusammenhang mit diesem Werk. Diese Kaskaden von Referenzen, Wortspielen, Hinweisen, Zitaten sind das, was mir letzten Endes den Zugang zum Album doch noch verschafft hat, da genau das - Zitatpop eben - schon immer das Ding war, das mich immer kriegt. Wie auch in Filmen, Büchern, Buchstabennudelsuppe. Könnte man in der Zeit zurückreisen, sollte man in die Rezension des eben erschienenen "L'état et moi" einbauen: "Blumfeld ist das CNN der Weißen." Kleiner Hinweis: DAS ist Ironie.

 

Apropos: "Das WAR soziale Marktwirtschaft, langweilig wird sie nie" war die vielleicht deutlichste Textvariation die Distelmeyer für uns vorbereitet hatte, auch wenn es noch einige andere Änderungen hab. Am ohrenfälligsten die Versatzstücke aus anderen Songs. Das bekannte "Electric Guitars/Ev'rytime We Say Goodbye" am Ende von Verstärker erhielt Assistenz durch den Dylan-Song "You're A Big Girl Now" am Ende von "Kommst Du mit in den Alltag", "Evergreen" wurde ergänzt um "Girl from Ipanema" (was schon im Moment des erstmaligen Hörens so logisch und naheliegend war, dass wir bis zu den Knien in Schuppen standen) und "Sing Sing" erhielt ein paar Auszüge von Robert Wyatts "At Last I'm Free" spendiert. Weg vom Nerdwissen, zurück zum Album: Gerade wenn man sich Evergreen und auch You Make Me noch mal zu Gemüte führt, kann man eigentlich nicht mehr über die neuen Töne auf "Old Nobody" enttäuscht bzw. wütend wie ein Vierjähriger sein, oder? Das steckt doch in den Liedern, die er da singt, mitten drin? Genau so, wie "Mein System kennt keine Grenzen" perfekt auf das Album davor gepasst hat. Was war also mit Euch los? Bzw. IST mit Euch los? Die "Ich komm nur wegen den ersten beiden Alben, danach waren sie nämlich ne blöde Schlagerband"-Typen waren nämlich auch da. Und zwar alle.

 

Essenz: Das waren nicht nur alles Bombentexte. Das war auch granatengute Musik. Ob das Treibende von der eigenen Geschichte, wo man am Ende schon hofft, dass es endlich vorbei ist, weil die Knie schon nicht mehr federn wollen und dann doch noch eine Strophe und noch eine und noch eine kommt und Jochen dem alten Gaul Blumfeld ordentlich die Sporen gibt, als gäbe es kein Morgen. Oder das janglende Zeittotschläger, der geheime Höhepunkt (aber nicht weitersagen). Ich würde es mir auch noch ein drittes Mal anschauen. Und dann nochmal und nochmal. Und wenn er in 5 Jahren dann Old Nobody nur von Harfenistinnen begleitet spielen will, dann geh ich auch hin. Ihr könnt ja dann im Feuilleton lesen, was ihr verpasst habt.

 

Blumfeld in Berlin, Astra Kulturhaus 13.09.2014
Foto von Christian_alternakid
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