let’s hear it for hamburg
Das Jahr 2006 war nun wirklich ein außergewöhnlich gutes für Deutschlands Indie-Rock-Hauptstadt. Die Urväter wie die Epigonen, Klassiker wie bereits verloren geglaubte Bands veröffentlichten beeindruckende Werke, nur Tocotronic blieb daheim.
Bereits im Januar eröffneten Tomte mit einem ersten Paukenschlag das Jahr: Platz 4 in den deutschen Albumcharts war der Lohn für unablässiges Touren und die zwei Vorgängeralben, die zum besten gehören, was der deutsche Indie-Rock in den letzten 10 Jahren hervorbrachte. Das Feuilleton jedoch entschloss sich zur Sippenhaft - man konnte sich des Eindrucks nicht verwehren, dass Tomte mancherorts für das enttäuschende zweite Kettcar-Album abgestraft wurden. Musikalisch bewegten sich Tomte in Richtung einer Verfeinerung von „Hinter All Diesen Fenstern“, raus aus den Schrammelgitarren, rein in die Schubkarre Pathos. Zwar hätte dem Album der eine oder andere Garagensong gut getan, aber letzten Endes waren die zwei herausragenden Tracks nun einmal das 12 Meter große New York und der Albumcloser Geigen Bei Wonderful World, das am weitesten von einem typischen Tomtesound entfernt war und erstmals leise Töne ohne jegliche Schnoddrigkeit auffuhr.
Eine Rückkehr zur alten Form feierten die zwei Hamburger Urgesteine Blumfeld und Die Sterne. Während Blumfeld nach dem – mit Ausnahme der Single „Wir sind frei“ – verwirrend uninspirierten „Jenseits von Jedem“ Album mit „Verbotene Früchte“ einen Befreiungsschlag landeten, der wie jedes ihrer Vorgängeralben mit Ausnahme eben von Jenseits Von Jedem die Band Neuland betraten sah, knüpften Die Sterne an ihre Neuzeitrenaissance „Irres Licht“ an und überwanden das vor allem textlich zum Teil schwache Vorgängerwerk „Das Weltall ist zu weit“.
Blumfeld (deutsche Albumcharts: # 21) regten Musikzeitschriften, Publikum und Feuilleton aufs Neue zu Diskussionen an, Entpolitisierung und Rückzug in eine neue Bürgerlichkeit wurden Jochiboy vorgeworfen oder an anderer Stelle mit wilder Entschlossenheit politische Aussagen in die Apfelmänner dieser Welt interpretiert, die JD jedoch in allen Interviews von sich wies. Ohne Frage jedoch: Verbotene Früchte ist eines der mutigsten Alben des Jahres, gerade weil es gängige Kategorisierungen und Interpretationen ausschließt bzw. sich ihnen auf einer persönlichen Ebene öffnet, in dem die Band einen Begleittext verweigert, der über ein „Hey Folks, habt ihr Bock auf Obst?“ hinausgeht.
Die Sterne riefen auf „Räuber und Gedärm“ (deutsche Albumcharts: # 58) mit „Am Pol Der Macht“ eines der herausragenden Lieder des Jahres auf und folgten der erhobenen-Faust-Politisierung der letzten beiden Alben, die die subtilere ‚Ich und die Scheißwelt’-Dialektik aus der früheren Sternezeit nun komplett ersetzt hat. Für lyrische Tiefschläge wie „Unsere Ideen sind genital“ entschädigt der „Komm, hier noch einen auf die Herrschenden…“- Einstieg am Pol der Macht dankenswerterweise galore.
Dass das neue Goldene Zitronen Album (keine Top 100 Platzierung) nicht allerorts als Sensation des Jahres besprochen wurde, liegt am Fluch der guten Tat. Nur weil von den Goldenen Zitronen nicht weniger als herausragendes erwartet wird, kann ein fieses Miststück wie „Lenin“ im großen Bild unbeachtet bleiben. Globalisierungskritik für den Dancefloor in „Wenn ich ein Turnschuh wär’“, spokenword-Hasstirade „Mila“ und Kommunistenschlaflied „Lenin“ sind die Höhepunkte auf einem zu Unrecht als „sperrig“ abgestempelten Album – wie Blumfeld ist auch die andere ewige Hamburger Band einen weiten Weg gegangen, doch schaffen beide es bis heute, anzuspornen aufzustacheln aufzuregen. Möge Schorsch Kamerun ewig weitermarschieren.
Anfang September folgte ein Doppelschlag zweier befreundeter Bands: Kante und Sport. Erstere veröffentlichten mit „Die Tiere sind unruhig“ (deutsche Albumcharts: # 28) eine Best Of, die keine war. Es ist, wie einst von ihnen selbst besungen, die Summer der einzelnen Teile and all the better for it. Alles, was Kante seit Zwischen den Orten 1997 spielten, findet sich in „Die Tiere sind unruhig“ in dem einen oder anderen Stück wieder. Hinzu kommt eine neu dazu gewonnene Souveränität, die mit einer gewissen Kompromisslosigkeit einhergeht. Nicht nur, das „Die Wahrheit“ auf Gitarrenbrettern steht, die die Welt bedeuten, nein, noch unfassbarer, in „Die größte Party der Geschichte“ wird Thiessen im besten Sinne funky, was nur noch von einem brillanten sowohl 5 Sterne Deluxe als auch den Rave-Novelty-Hit „The Bouncer“ zitierenden Rap-Part des Sportfrontmannes Felix Müller getoppt wird.
Jener Felix Müller, der über die Jahre immer integraler für den Kante-Sound zu werden scheint, ist im „Hauptberuf“ Sänger und Gitarrist bei Sport (keine Top 100 Platzierung), der großen verlorenen Indie-Rock-Band Deutschlands. Schon das erste, herausragende Sport-Album „These Rooms Are Made For Waiting“ erhielt seinen Titel durch die nicht enden wollenden Schwierigkeiten endlich genügend Geld für die Produktion des Albums zusammenzukratzen. Dass es sagenhafte fünf weitere Jahre dauerte, bis Sport ein zweites Album vorlegen können, bestätigt nur die gewisse Tragik, die die Band umweht. War „These Rooms Are Made For Waiting“ noch ein völlig in der Tradition des klassischen US-Indie-Rocks von Sebadoh stehendes Werk, das textlich den einen oder anderen Tocotronism einbaute (“Die Stadt war voll von Nationalmannschaftstrainingsanzügen / es war die Hölle mit dem Bus zu fahren“), ist das Folgealbum vielschichtiger und vor allem, hallo Herr Neologismus, deutlich schwergitarriger. Dass der Albumtitel „Aufstieg und Fall der Gruppe Sport“ der beste des Jahres ist, braucht nicht diskutiert werden. Hoffen wir, dass Müller, Böters und Smukal wenigstens dieses eine Mal mit der notwendigen Aufmerksamkeit belohnt werden, auf dass nicht wieder fünf Jahre durch Hamburg ziehen bis ein erneutes Lebenszeichen zu vernehmen ist.
Es war ein gutes Jahr.
motorhorst am 08.09.2006 um 11:26 Uhr:
Schade, dass klez.E nicht aus Hamburg sind. Und schön, dass man mal geballt sieht, welches Potenzial an deutschsprachiger Musik auch ohne Radioquote existiert. Noch dazu jenseits von Mainstream-Schmarrn wie Julimond und Epigonen, von Ultra-Deutschen wie Xaver ganz zu schweigen.Schöne Jahreszusammenfassung zum Septemberanfang (!).
Christian_alternakid am 08.09.2006 um 12:15 Uhr:
ja, und Phantom/Ghost habe ich jetzt gar nicht erwähnt, weil ich mich auf Indie-Rock beschränken wollte.und wie man als eifriger zillionärsspieler weiß: anfang september ist praktisch weihnachten. da geht schon mal ein jahresrückblick ;-)
Basti am 08.09.2006 um 12:36 Uhr:
aber alder, hamburg. Da kommt doch noch ClickClickDecker und Bratze.Christian_alternakid am 08.09.2006 um 12:37 Uhr:
ich dachte clickclickdecker wäre flensburger? wo ist eigentlich Peter Licht her? NRW?und was ist bratze?
Kern am 08.09.2006 um 12:40 Uhr:
Bratze ist das neue Projekt von CCD und Der Tante Renate. Ihr Hit "Jean Claude" vom AUdiolith Sampler wurde auf dem Immergut, in der sellfish Disko und in allerlei Privatwohnungen schon abgefeiert bis zum umfallen. Risiko Diabolo.Kern am 08.09.2006 um 12:41 Uhr:
und CCD wohnt schon seit anderthalb Jahren oder so in HH (höre auch: In Altona trank ich mal einen guten Kaffee)Basti am 08.09.2006 um 12:44 Uhr:
Turbostaat ist Flensburg. mist, ich hab die 7inch immer noch nicht.Basti am 08.09.2006 um 12:46 Uhr:
und Tomte wohnen ja in Berlin, und kommen aus Hemmoor. ;) peter Licht müsste Kölner sein.Christian_alternakid am 08.09.2006 um 12:50 Uhr:
aber wir können uns darauf einigen, dass wir Tomte unter hamburg subsumieren?lindihopp am 08.09.2006 um 12:52 Uhr:
ich dachte, wir hätten beschlossen, dass domde eine fränkische band sind....Christian_alternakid am 08.09.2006 um 12:54 Uhr:
nur weil wir uns auf gande und spord mit dees unterhalten haben?lindihopp am 08.09.2006 um 13:01 Uhr:
nee, das hat doch der björn mal behaubded und ich fand das sehr nett, weil ich sie schon seit dem immergut nur noch domde nenne. und korrekt fränkisch müsste es natürlich "mit dem dees" heißenbuenos maddias! am 08.09.2006 um 13:35 Uhr:
den ganzen herkunftsstreitereien zum trozt will ich hier nur nochmal fesstellen, dass die goldenen Zitronen mit lenin ein allgemeinhin ziemlich unterschätztes album rausgehauen haben. aus meiner sicht ein großer wurf mit einigen perlen (s.o.). und live sind schorsch & genossen zwar nicht mehr die jüngsten aber immer noch großartig. das glashaus wird das bestätigen. ansonsten zustimmung meinerseits: hamburg (2006) rockt (wieder)!