Ich hab's gesehen

01.10.2006 | 5 Kommentare | wowo101

Nach über einem Monat Lebensbegleitung (und Dauerspitzenplatz in den mh-Charts) endlich Kante live im Hamburger Uebel & Gefährlich.
Nach längerer Ortsabstinenz erstmal leichte Orientierungsprobleme: Der Laden eingangstechnisch auf links gedreht, statt der hinteren Bar ein noch hinterer Kiosk (immerhin mit Currywurst und Kartoffelsalat), die Geländer- durch Treppenkonstruktionen ersetzt. Das Personal hinter dem Tresen hat davon zwar nicht viel mitbekommen ("Umgebaut? Nee..." Und nach Hinweis auf die genannten Details: "Stimmt, da hast du ja recht..."), aber konzertkompatibler scheint's zunächst.

Das ist bei der Vorband wurscht: Veranda Music ersetzen die Jungs von Sport (die am 5.10. im Knust ihr neues Album präsentieren), und das tun sie nicht besonders gut. Deutsche Band, englische Texte, Klischee-Musik mit Anleihen bei sämtlichen aktuellen Indie-Strömungen, aber ohne Hooks und Kanten (no pun intended). Und ein Schlagzeuger, dem das simpelste Fill-in reicht, um den Rhythmus zu zerhacken. Entsprechend gemäßigt des Publikums Begeisterung.

Der entscheidende Teil des Abends beginnt stilgerecht mit einem im Takt sich öffnenden Vorhang, hinter dem "Die Tiere sind unruhig" zum Vorschein kommt. Peter Thiessen mit Metallermatte und robuster Konstitution ein willkommenes Gegenbild zur Hamburger Spaghettifraktion, was sich in Musik wie Gestus der Band fortsetzt: Auf der Skala der Stadt liegen Kante ganz klar im "wie man sich fühlt"-Bereich - aber natürlich (und gottlob) meilenweit vom Befindlichkeitspop Berliner oder Kölner Provenienz entfernt.

"Die Tiere sind unruhig" hat eine starke Dramaturgie, und die überträgt Kante konsequent auf die Bühne: Von der ahnungsvollen Atmosphäre des Openers spannt sich über diverse Aus- und Einbrüche ein nachgerade zwingender Bogen bis zur Entlassung in die andauernde Hitze. Überhaupt, "Hitze": Von der Intensität des Spiels (Höhepunkt: Bass kaputt) bis zu den triefend nassen Klamotten der Protagonisten ist sie an diesem Abend nicht nur Textzentrum, sondern auch Generalmetapher für die Kantemusik. Das Songwriting ohnehin großartig, spielen die Jungs so tight, wie man es sich nur wünschen kann, und der ebenso angemessene Sound hüllt einen ein bis zu Gänsehaut und horizonttranszendierendem Dropout. (Die Mithilfe der Bar vorausgesetzt, natürlich.)

Dazu passt dann sogar der gelegentliche Ausbruch in Feedbackorgien: als Waffe gegen Vereinnahmung. Wenn Thiessen & Co. Instrumente & Verstärker gegeneinander ausspielen, sieht man im Publikum zwei Arten von Gesichtern: ironisch grinsende - und den "wann geht denn endlich die Musik weiter"-Blick der Kreischfraktion. (Eine dritte Gruppe ist zahlenmäßig zu vernachlässigen und besteht aus kopfwippenden Alt- oder Möchtegernhippies mit den passenden Drogen im Kreislauf.)

Dass die Stimmung trotzdem nicht überkocht (die größte Party der Geschichte fand sicher nicht an diesem Abend statt), mag an den Allüren des Hamburger Publikums liegen oder daran, dass die Musik vor allem dann mitreißt, wenn man schon ein paar Wochen mit und von ihr gelebt hat. Mein Tipp: Trotz Umbau ist der Laden einfach immer noch - von einem begrenzten sweet spot vor der Bühne abgesehen - denkbar stimmungsabträglich.

Am Ende aber ist das egal: Man vergießt eine Träne anlässlich der Füchse, die sich hervorwagen - und macht sich verschwitzt, melancholisch und glücklich mit ihnen auf den Weg in die letzte Sommernacht der Stadt.
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Kommentare

motorhorst am 02.10.2006 um 14:46 Uhr:

Wenn niemand von den ganzen Knalltüten hier etwas dazu schreibt, dann sage ich einfach mal: Sehr schöner Text, bitte gerne mehr davon.

Basti am 02.10.2006 um 15:39 Uhr:

oh ja, das stimmt. liest sich sehr schön.

Veranda Music sagt mir auch irgendwas. die gibts schon länger, oder?

wowo101 am 02.10.2006 um 16:57 Uhr:

vielen dank für die blumen! um mehr kommt ihr auch gar nicht herum.

und veranda music gibt's tatsächlich schon seit "den neunzigern", habe sie jetzt aber zum ersten mal gesehen. waren wohl länger am pausieren.

Christian_alternakid am 04.10.2006 um 16:56 Uhr:

guter text, ja. mehr bitte.

ni(e)nett(e) am 04.10.2006 um 17:33 Uhr:

in der tat gut geschrieben! ich war zwar nicht in hamburg mit von der partie, jedoch in heidelberg und danke dem autoren für ein zweites (wenn auch imagniäres) konzerterlebnis.
abgesehen davon, dass ich zur ironisch grinsenden fraktion gehörte, gehörte ich auch zu denen, die sich das neue album vorher noch gar nicht angehört hatten. trotzdem hat bei mir der liveauftritt gezündet. ehrlich gesagt, hatte ich da im vorhinein so meine zweifel. ich finde kante seit jahren großartig, habe sie aber vergangene woche zum ersten mal gesehen. da baut man sich gern wunschschlösser auf, denen die band dann live nicht gerecht werden kann. in diesem fall jedoch schon! einvernehmend! intensiv! und das selbst mit mir völlig unbekannten songs...


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