Ein Musikwochenende zwischen Oberbayern und Schwaben

18.07.2016 | 1 Kommentar | motorhorst

20 Jahre m94.5 heißt für mich auch eine Reise ins Licht: Die Sterne, Tocotronic und ich werden nämlich genau so alt.
Wie mir vor den herrlichen Kammerspielen in München am späteren Freitag abend auffällt, sind es wirklich fast auf den Tag genau 20 Jahre, seit ich Die Sterne zum ersten Mal live gesehen habe. Und auch das am nächsten Tag stattfindende Tocotronic-Konzert in der Kantine Augsburg ist beinahe ein zwanzigjähriges Live-Jubiläum. Erstaunlich. Seltsam. Erfreulich. Hätte ich 1996 eine Band gehabt, die ich - mal unabhängig von altersbedingten Grenzen - damals schon seit so lange Zeit gesehen hätte, wer wäre das denn gewesen? Dire Straits? Genesis? Meat Loaf? Um Himmels Willen. Gnade der relativ späten Geburt.

Nicht nur, dass sowohl Sterne wie auch Tocotronic für mich stetige Konzertbegleiter in den letzten zwei Jahrzehnten waren (Tocotronic inzwischen 19 mal gesehen, die Sterne 13 mal, wäre das Treppengate vom UOA 2009 nicht gewesen, sogar schon 14 mal), sie haben mich auch musikalisch nie enttäuscht und thronen beide in dem exklusiven Raum, an dessen Eingangstür ich ein Schild "Können eigentlich machen, was sie wollen. Wird mir immer gefallen" gehängt habe. Tocotronic sind schon seit jeher über jeden Zweifel erhaben und auch die Sterne schaffen es selbst auf Alben, die für mich etwas schwerer zugänglich sind, immer wieder ganz besondere Hits zu platzieren (Wahr ist was wahr ist, Aber andererseits, Innenstadtillusionen).

Als die Sterne eben genanntes "Wahr ist was wahr ist" dann spielen, überrascht mich das Münchner Publikum mit extremer Textsicherheit und Euphorie, die man ihm beides klischeehafterweise nicht zutraut. Die Euphorie ist bei mir da sowieso schon auf einem Höchstlevel, da bereits die Stunde vorher ein Greatest-Hits-Programm war, das diesen Namen verdient und auch nicht: Was anderes als große und größte Hits sollte so eine Band auch spielen, bei diesem Repertoire? Um dann trotzdem noch auf Kracher wie "Fickt das System", "Nur Flug", "Das bisschen besser" oder "Bis neun bist Du o.k." verzichten zu können. Weil es einfach viel zu viel ist, was diese Band auf den sieben Alben nach Posen (das Album, mit dem ich sie kennen lernte) und auch auf den zweien davor geschaffen hat. Und auf Posen selbst: Heute heißt es hiervon "Risikobiographie" und das mit einem persönlichen Ereignis (Wunstock, Naked Lunch) verbundene "Themenläden". Und selbst das unvermeidliche "Was hat Dich bloß so ruiniert?" macht mich live glücklich, einer der Songs, die ich an diesem Abend in die Schublade "Würde ich mir zuhause nie anhören, aber live ist das einfach nur umwerfend" ablege, gleich neben "Enjoy The Silence", "One With The Freaks" oder auch "Ein Jahr (Es geht voran)". Selbst das von mir heißgeliebte 24/7-Album, das seinerzeit etwas unterging (ich erinnere mich da an einen Auftritt beim Bootbohook, wo die neuen Stücke gar nicht recht geschätzt wurden), bekommt mit einem fulminanten Triptychon aus "Depressionen aus der Hölle", "Convenience Shop" und "Deine Pläne" seine verdiente Würdigung.

Woher kommt die Euphorie? Alkohol? Na klar, auch. Aber es passt halt einfach alles. Die Kammerspiele München sind einfach ein wunderschöner Ort, auch wenn das Stehen in dem abschüssigen Saal sehr ermüdend ist und man ständig glaubt, leicht nach vorne zu rutschen. Da sieht man auch nach, dass es zwischendurch mal kein Bier gibt. Und als es wieder welches gibt, das es dann viel zu warm ist. Dass der Sound bei den wunderbaren Drangsal so dumpf und breiig ist, dass man zu Beginn kaum einen Song erkennen kann. Im Verlauf des kurzen Auftritts bessert sich dieser dann aber stetig und erreicht fast die hohe Qualität der Laune von Max Gruber. Dieser ist kalkweiß geschminkt, etwas, dass er niemals machen würde, wie ich einen Tag später in "Das Wetter" im Rahmen eines Interviews voller Rechtschreibfehler und in Anspielung auf The Cures Robert Smith, lesen darf. Schöner Auftritt und Auftakt am Freitag (die zuvor aufgetretenen Monday Tramps schenke ich mir nach kurzer Hörprobe, da diese noch viel tiefer im undefinierbar dumpfen Soundmorast feststecken). Der Songs des Jahres 2016, Allan Align, ist eines der Highlights und geht viel zu schnell vorbei, es gibt ein neues Stück, das eventuell "Und Du? (10.000 Volt)" heißt und auch die übrigen Songs vom Debüt "Harieschaim" stellen trotz aller akustischen Herausforderungen zufrieden. Ein Zuckerl gibt es bei der Zugabe, als sich die Frage "Sind Metallica-Fans hier?" nicht als ironischer Diss entpuppt, sondern völlig ironierfrei und supertight "For Whom The Bell Tolls" zum krönenden Abschluss gegeben wird. Großartig.

Der bieraufwändige Abend fordert am nächsten Tag natürlich seinen Tribut: Nach kurzem Schlaf (das schlimmste an den missbrauchten Nächten), kann nur das intensive Auslaufen durch die Stadt mit Horden von einkaufswütigen Konsumzombies und Junggesellenidioten vom Dorf, der Besuch des hervorragenden Optimal-Plattenladens und generelles zielloses Herumirren ein wenig die Lebensgeister wieder herstellen. Die 14.000 Schritte machen die Beine aber auch schwer und die abendliche Reise nach Augsburg wird da schon eher zu Last als Freude. "Wieso machst Du dann solche verrückten Sachen, Forrest?" - "Verrückt ist der, der Verrücktes nicht tut", denke ich mir bei der Ankunft an der Kantine, die vielleicht 250-300 Leuten Platz bietet, eine völlig andere Situation als mein letztes Tocotronic-Konzert, das in einem von bookertechnisch geprägtem Größenwahn gebuchten Zenith stattgefunden hatte, welches zwar nicht ausverkauft, aber sicher von der zehnfachen Menge an Personen besucht wurde. "Warum tut sich eine Band auf dem Niveau denn noch solche jugendzentrumsartigen, kleinen Shows an?" lautet dann die zweite dumme Frage in diesem Absatz und auch hier ist die Antwort einfach: Weil es wahnsinnig Bock macht. Der Band, die den direkten Draht zum Publikum hat und ein etwas anderes Set als zuletzt (z.B. ohne "Prolog" oder "Die Erwachsenen") spielt, dem Publikum, das direkt vor der Bühne steht, die keine 10 Meter entfernt und keine 5 Meter hoch ist und halt solchen Trotteln wie mir. Jede Anstrengung ist das wert und eine nächtliche Heimfahrt über Bundesstraßen zwischen Donauwörth und Weißenburg rechtfertigt so was auch.

Zur Band muss man nicht viel sagen: Spielfreudig, auch bei der 200. Wiederholung von "This Boy is Tocotronic" euphorisch, bei "Aber hier leben nein danke" inbrünstig. Der Graf charmant und fröhlich. Die Houellebecq-Werdung von Rick McPhail inzwischen so weit fortgeschritten, dass es auch nicht mehr verwundern würde, wenn er demnächst als Phailnohni auftreten würde. Da keine Keyboards dabei sind, darf er übrigens auch die "Final Countdown"-Keyboard-Passagen bei "Let There Be Rock" ins Mikrofon "singen", ein weiterer skurril-bizarrer Höhepunkt.

Vor mir steht ein Typ, der noch nie was von der Band gehört hat, aber dem Mädel nen Gefallen tun muss, mit dem er hier ist und deshalb richtig abrockt und mitgeht. Vorne im Pogo-Mosh-Pulk steht und springt ein Typ mit 27 Festivalbändchen am dauererhobenen Arm und brüllt jede Zeile jedes Songs mit und kann sich gar nicht mehr einkriegen, vor lauter Begeisterung über die Tatsache, heute hier und er zu sein, so ein Zufall, gerade an dem Abend als diese Band auch da ist, die ihm so viel bedeutet hat in seinem Leben, seit er zum ersten Mal im jetzt-Magazin von ihr gelesen hat. Drei nicht mehr ganz junge Damen stehen im etwas sichereren Bereich, links neben der Bühne und filmen synchron mit ihren Handys die Performance von "Du bist ganz schön bedient" und schreiben sich ein paar Stunden später bei Whatsapp, noch "Scheiße, bei mir dröhnt der Ton ganz arg und man versteht fast nix" - "Ja, bei mir auch, ich hab's trotzdem bei YouTube hochgeladen" - "Ja, ich auch.".
Und solche kleinen Geschichten sind der Grund, warum wir heute hier sind. Und "Nein Danke!" brüllen, "Deeezeeeeeeeeember" endlos dehnen und mit einer Träne im Auge bei "Kein Wille triumphiert" diese so naheliegende Formulierung von DvL hart abfeiern und uns fragen, warum wir nicht selber auf so eine Verdrehung des riefenstahlschen Titels gekommen sind und uns gleich selbst antworten: Dafür waren, sind und bleiben Tocotronic da.

In 20 Jahren werden hoffentlich die Nerven und Messer die Bands sein, die mich immer noch begeistern und begleiten (und Tocotronic, die Sterne oder Notwist hoffentlich auch noch!), aber selbst wenn nicht: Was soll's? Die haben mir jetzt schon so viel gegeben, dass zumindest ihre Alben dann immer noch erklingen werden (siehe auch Marr, Sharon Stoned oder Blumfeld).

Setlists (alle aus dem Gedächtnis, sicher weder vollständig noch in der richtigen Reihenfolge):

Drangsal

(Moritzzwinger?)
Der Ingrimm
Do The Dominance
Will ich nur dich
Hinterkaifeck
Love Me Or Leave Me Alone
Und Du? (10.000 Volt)
Allan Align
Wolpertinger
For whom the bell tolls

Die Sterne

Universal Tellerwäscher
Aber andererseits
Themenläden
Flucht in die Flucht
Mein Sonnenschirm umspannt die Welt
Depressionen aus der Hölle
Convenience Shop
Deine Pläne
Der Bär
Widerschein
Menschenverachtendverliebt
Risikobiographie
Die Interessanten
Wahr ist was wahr ist
Was hat Dich bloß so ruiniert?

Tocotronic

Neues vom Trickser
Ich öffne mich
Du bist ganz schön bedient
Digital ist besser
Aus meiner Festung
Dieses Jahr
Aber hier leben? Nein Danke
Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst
Samstag ist Selbstmord
Die Folter endet nie
...
Kultur kann so cool sein - weiter lesen auf Augsburger-Allgemeine: http://www.augsburger-allgemeine.de/augsburg/Kultur-kann-so-cool-sein-id38519167.html

Jackpot
Zucker
Du bist immer für mich da
This Boy Is Tocotronic
Macht es nicht selbst
Drüben auf dem Hügel
-----------------
Freiburg
-----------------
Let There Be Rock
Explosion

Links in die Konzertdatenbank


Tags

Konzertberichte  

Bewertungen

0 Bewertungen
2
Um eine Bewertung abzugeben, musst Du ein eingeschaltenes Mitglied der Motorjugend sein.

Kommentare

motorhorst am 22.07.2016 um 07:22 Uhr:

Den Drangsal-Auftritt vom melt! 2016 gibt es zur Zeit bei arte concert inklusive guter Gesichtsbemalung, schöner Ansagen und For Whom The Bell Tolls. Njoy.


Kommentieren

Als Mitglied der motorjugend mit dem Rang Blicker oder mehr kannst Du an dieser Stelle einen Kommentar zu dieser Text abgeben und andere Kommentare kommentieren.


Andere Artikel

Konzertberichte

Die Nerven beim Umsonst & Draußen in Würzburg

Alles wie gehabt - Die Nerven haben es mal wieder allen gezeigt.

20 kurze Gedanken über die Nerven

Na das war wieder so ein Wochenende. 500km runter gerissen und quasi 2 Tage - weini weini - nur für die Nerven "geopfert". Was? Wie es war? Unglaublich natürlich. Wie immer. Blöde Frage auch.

Ich habe die Nerven live gesehen und es war wunderbar

Auch im vierten Auswärtsspiel ungeschlagen: Die Nerven im Strom in München