"I Am Curious (Blue)" ist aus dem gleichen Holz geschnitzt wie sein Schwester-Film "I Am Curious (Yellow)": ein Hybrid aus soziopolitischer Doku und individualsexueller Fiktion, wobei das blaue Pendel stärker in RIchtung Politik ausschlägt, den Sexpart deutlich zurückfährt und dahingehend, abgesehen von eventuell damaligen Befindlichkeiten hinsichtlich des Zeigens von lesbischem Sex und Redens über Masturbation, eigentlich kaum Skandalerregungspotenzial bietet.
Die politischen Positionen dagegen sind sicher auch aus heutiger Sicht noch umstritten im Mainstream: gegen die Staatskirche, gegen die Klassengesellschaft, gegen die Lohnarbeit, gegen die Idee Gefängnis und über allem gegen das Prinzip Verdienst für Verdienst, also gegen jede Meritokratie. "I Am Curious" denkt den schwedischen Wohlfahrtsstaat komplett zu Ende, hinterfragt aber natürlich - wie eigentlich immer bei Filmen mit dieser Position - leider keine alternative Finanzierung der Welt. Zwar verdient laut Film der Architekt das Zweieinhalbfache der Kaltmamsell (ein Beruf den ich LANGE nicht mehr gehört habe!), zahlt aber auch bereits 80% Steuern. Deshalb ist es fast kurios, dass ausgerechnet ein schwedischer Film diese Forderungen mit solcher Dringlichkeit aufstellt und in der Folge in den USA zu einem solchen Counter-Culture-Sensationserfolg wurde, wäre doch für die amerikanische Gesellschaft schon der hier von Vilgot Sjöman so arg kritisierte Ist-Zustand Schwedens ein "marxistisches Paradies".
Filmisch hat "Blue" Stärken in seiner verschränkten, sich selbst hinterfragenden Struktur und der Thematisierung des Prinzips "Film" mit ständigen Brüchen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, die sich nicht nur auf dazwischen eingestreute, anscheinend echte Straßenumfragen mit real people beschränkt, sondern immer wieder auch den Prozess des Filmens und der Aufnahme ausstellt und die Figuren damit in einer Doppelbödigkeit als Charakter wie als Person dahinter zeigt.
Regisseur und Radikalinski Vilgot Sjöman darf man also gern als schwedische Entsprechung von Jean-Luc Godard sehen, allerdings fehlt Sjöman sowohl das Spielerische, das Godard in jenen Jahren immer noch auszeichnete (siehe den zwei Jahre älteren "Masculin, Feminin - die Kinder von Marx & Coca Cola" beispielsweise) und dessen Göttertalent für Bildkompositionen.
Christian_alternakid am 01.04.2021 um 09:15 Uhr:
"I Am Curious (Blue)" ist aus dem gleichen Holz geschnitzt wie sein Schwester-Film "I Am Curious (Yellow)": ein Hybrid aus soziopolitischer Doku und individualsexueller Fiktion, wobei das blaue Pendel stärker in RIchtung Politik ausschlägt und den Sexpart deutlich zurückfährt und dahingehend, abgesehen von eventuell damaligen Befindlichkeiten hinsichtlich des Zeigens von lesbischem Sex und Redens über Masturbation, eigentlich kaum Skandalerregungspotenzial bietet.Die politischen Positionen dagegen sind sicher auch aus heutiger Sicht noch umstritten im Mainstream: gegen die Staatskirche, gegen die Klassengesellschaft, gegen die Lohnarbeit, gegen die Idee Gefängnis und über allem gegen das Prinzip Verdienst für Verdienst, also gegen jede Meritokratie. "I Am Curious" denkt den schwedischen Wohlfahrtsstaat komplett zu Ende, hinterfragt aber natürlich - wie eigentlich immer bei Filmen mit dieser Idee - leider nicht eine alternative Finanzierung der Welt. Zwar verdient laut Film der Architekt das Zweieinhalbfache der Kaltmamsell (ein Beruf den ich LANGE nicht mehr gehört habe!), zahlt aber auch bereits 80% Steuern. Deshalb ist es fast kurios, dass ausgerechnet ein schwedischer Film diese Forderungen mit solcher Dringlichkeit aufstellt und in der Folge in den USA zu einem solchen Counter-Culture-Sensationserfolg wurde, wäre doch für die amerikanische Gesellschaft schon der so von Vilgot Sjöman hier arg kritisierte Ist-Zustand Schwedens ein "marxistisches Paradies".
Filmisch hat "Blue" Stärken in seiner verschränkten, sich selbst hinterfragenden Struktur und der Thematisierung des Prinzips "Film" mit ständigen Brüchen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, die sich nicht nur auf dazwischen eingestreute, anscheinend echte Straßenumfragen mit real people beschränkt, sondern immer wieder auch den Prozess des Filmens und der Aufnahme ausstellt und die Figuren damit in einer Doppelbödigkeit als Charakter und als Person dahinter zeigt.
Regisseur und Radikalinski Vilgot Sjöman darf man also gern als schwedische Entsprechung von Jean-Luc Godard sehen, allerdings fehlt Sjöman sowohl das Spielerische, das Godard in jenen Jahren immer noch auszeichnete (siehe den zwei Jahre älteren "Masculin, Feminin - die Kinder von Marx & Coca Cola" beispielsweise) und dessen Göttertalent für Bildkompositionen.
Dennoch: "Blue" fand ich überzeugender als ich "Yellow" in Erinnerung hatte, den ich vor gut zehn Jahren gesehen habe - was dringend für eine Neubewertung von "Yellow" spricht.