Tag 1:
Auf, auf! Auf die gruenen Wiesen im Herzen Oslos. Wir wollen Rock. Wir wollen Roll.
Nachdem Ane Bruen uns zunaechst beinahe gleich wieder vertrieben haette, kommt gluecklicherweise ein Indie-Doppelpack, der ansteckend, wild, wirr, chaotisch sein wird.
Zunaechst unsere blutjungen Freunde von Los Campesinos!. Die englisch-walisische Siebenmannband geht mit juegendlichem Enthusiasmus an das Erbe der C86-Generation heran und produziert mit Geige, Keyboard, Glockenspiel, Gitarre und Geschrei, immer wieder Geschrei wunderbarsten Indie-Pop, der spaetestens bei „You! Me! Dancing!“ auch am fruehen Nachmittag das norwegische Publikum vollends infiziert. And I never cared about Ian MacKaye / Calvin Johnson never meant anything to me / but the International Tweecore Underground will save us all!.
Ziemlich sicher haben sich dagegen The Mae-Shi in ihrer Jugend fuer Ian MacKaye interessiert, sind doch die (Post-)Hardcore-Einfluesse trotz allem Pop immer noch deutlich herauszuhoeren. The Mae-Shi koennen in einer Sekunde Melodieseligkeit per mehrstimmigen Gesangs verbreiten, nur um direkt danach loszubruellen wie die Blood Brothers. Einen energiegeladeneren Auftritt wird man dieses Festival nicht mehr sehen, fantastisch.
Weniger wildem Geschrei, dafuer aber auch wirrem Ausdruckstanz zugewandt ist der junge Blog-Liebling Lykke Li, die allein dafuer Punkte bekommt, Vampire Weekend zu covern und mit ihrem eigenen Hit „Dance Dance Dance“ zu verschmelzen. An Dance war dagegen nicht einmal in einfacher Ausfuehrung bei Iron & Wine zu denken, der grossen Enttaeuschung des heutigen Tages. Was fuer wundervolle, einfache Songs hat der baertige Amerikaner doch einst produziert als er allein mit seiner Gitarre auf der Buehne stand. Was aber soll denn bitte diese Achtmannband, die jeden Song in ein anderes Soundgewand kleiden will? Einmal World Music, dann wieder Reggae, gefolgt von Mississippi-Blues. Ueber jeden dieser Songs walzt die backing band drueber als gaebe es kein tomorrow. Von Singer/Songwriter-Geheimtipp zu mundgerechtem musthave fuer das linke Bildungsbuergertum. Ein Aergernis.
Wenigstens unpraetentioes bleibt dagegen die Hoffnung der norwegischen Szene Ida Maria mit ihrem amtlichen Rock. Fuer „*I like you* sounds better when you are naked“ und „Oh My God“ wuerde das amerikanische Management von Avril Lavigne wahrscheinlich Millionen zahlen. Und das ist immer noch sympathischer als die Gigantomanie der nachfolgenden Kaizers Orchestra, deren groesstes Verdienst ist, dass wir nun fuer immer dankbar sein werden, dass Die Toten Hosen wenigstens nie auf die Idee gekommen sind, wie wild auf Muelltonnen einzutrommeln.
Minuten spaeter auf der Nebenbuehne dafuer eine Offenbarung: Girl Talk. Ein DJ-Set? Bastard-Pop? Whatever.
Girl Talk ist trashigster White Trash und legt doch ein Set auf, bei dem man nur noch durchdrehen kann – wie es auch die Hundertschaft an Konzertbesuchern macht, die nach 10 Minuten vor Begeisterung die Buehne stuermt und sich den letzten Anstand aus dem Leib tanzt. Faellt auch nicht schwer: bis zum Ende des Konzertes wird Mister Girl Talk selbst sich das Muskelshirt zerrissen und die Hose weggetanzt haben. Letzteres ist im uebrigen kein sprachliches Bild, er tanzt und springt tatsaechlich bis die Hose faellt. Gluecklich heben die Buehnenstuermer Girl Talk nach seinem Set in die Luft und tragen ihn von der Stage. Unfassbare Bilder, grossartige Musik. Girl Talk rules the world.
Girl Talk
(Girl Talk wird nach dem Auftritt von der begeisterten Menge von der Bühne getragen, Photo: Jan Erik Svendsen)
Die Stilkritik:
* Ane Brun: eine Mischung aus Folkfrollein und Rotkaeppchen. Kann nicht jeder tragen, Ane Brun zum Beispiel nicht.
* Los Campesinos: die Jungs unauffaellig, die drei Girls mit Hang zum Rock. and Roll.
* The Mae-Shi: baertige Nerds, aber in Teilen schon ueberdurchschnittlich gut aussehend.
Lykke Li
* Lykke Li: bizarr ausladendes schwarzes Kleid, das waehrend ihrer Ausdruckstanzversuche doch gefaehrlich wallte. Hatte man sich anders vorgestellt, als sie in „Little Bit“ and for you i keep my legs apart sang.
* Ida Maria: Ein blindes Truck Stop Mitglied haette mehr Glueck beim Griff in den Kleiderschrank. Ida Maria ist dann doch der Beweis, dass Maedchen eben nicht gut & stylish aussehen muessen, um Erfolg zu haben. Dafuer ein Dankeschoen.
* Girl Talk: White White Trash Trash. In Vollendung. Sleeveless Shirt zu knielanger grauer Jogginghose, weißen Socken und danach nur noch mit grauer Unterhose bekleidet. Im Trailer Park (oder Berlin-Mitte) wahrscheinlich der Hit.
Tag 2:
Dieser Tag soll mit Rockposen beginnen und mit Ueberrockposen enden. Wir kommen auf das Festivalgelaende als gerade unser Freund Ken Stringfellow mit seiner norwegischen Band The Disciplines das wirklich grossartige „Biggest Mistake“ anstimmt. Hier ist Stringfellow, alter Posies-Frontmann und Big Star Reunionmitglied, ganz bei sich selbst: fantastischer Power-Pop. Die anderen Disciplines-Songs verstehen sich dagegen auch mit dem haesslichen Kumpan Schweinerock ganz gut und sind deshalb verzichtbar, fuer Ken aber eine Einladung mal so richtig auf der Buehne die Rock- und Rampensau herauszulassen, was dann doch wieder sehr viel Spass macht.
Etwas betulicher geben sich dagegen Okkervil River, die aber wie immer mit ihrem Americana-Country-Rock ueberzeugen koennen. Sympathischer als Conor Oberst ist er allemal und musikalisch zumindest in den letzten drei Jahren auch nicht hintendran.
Musikalisch verwandt ist sicher auch Dev Hynes‘ neues Werk unter dem Namen Lightspeed Champion. Der fellbemuetzte Darling der britischen Folkszene gibt sich dabei ueberaus publikumsnah, draengt sein eigenes Publikum, doch jetzt bitte zu Sonic Youth auf die Hauptbuehne zu gehen und covert zuguterletzt noch unter groessem Jubel das Star Wars Theme.
Gemeinsam mit Lightspeed Champion wechseln wir dann natuerlich zu Sonic Youth auf die Hauptbuehne. Die elder statesmen der amerikanischen Indierockszene sind immer noch so sperrig wie vor 20 Jahren und keineswegs altersmilde. Im Gegensatz zu den vielgeruehmten The National enttaeuschen Sonic Youth keineswegs. The National dagegen haben sich entschlossen, das komplette Konzert im midtempo zu bestreiten und variieren fuer eine Band, die im Studio zu den ausgefuchstesten der US-Szene gehoert, erstaunlich wenig. Waehrend Kollege Zwirner The National mit dem „Interpol fuer Arme“ Siegel belegt, entscheiden wir uns fuer den Satz „Tindersticks in Rock aus Amerika“.
Originell, verspielt und trotzdem auf den Punkt sind dagegen Metronomy, die auf der Moshi Moshi Labelnacht das anwesende Publikum verblueffen. Mit ziemlicher Sicherheit wird man hier nicht das letzte Mal über Metronomy geschrieben haben und ein Zeltauftritt auf dem naechstjaehrigen Immergut wuerde fuer Jubelstuerme sorgen. Der Produzentenname des Moments ist Diplo mit seiner Arbeit fuer M.I.A. und Santogold. Sein DJ-Set ist recht gradliniger Techno mit Block Rocking Beats. Im direkten Vergleich mit dem Irrsinns-Auftritt von Girl Talk am Vortag zwar nur zweiter Sieger, aber wer sein Set mit einem eigenen Remix von „Paper Planes“ beenden kann, gewinnt kampflos.
Den Abschluss des Festivalabends bilden Turbonegro mit einer grossen Homecoming-Show: sie spielen ihr „Meisterwerk des Death-Punk“, „Apoaclypse Dudes“, in Gaenze vor einem ausrastenden Osloer Publikum. Turbonegro fahren auf, was nur geht: Feuerwerk, Flammenwerfer, nackte Maennerkoerper und Gaststars. Und was fuer Gaststars! Aus Schweden kommt Ebbot Lundberg, Saenger von Soundtrack Of Our Lives, und gar aus L.A. der grosse Nick Oliveri, nun MondoGenerator, ehemals Queens Of The Stone Age. Nicht weiter verwundern wuerde deshalb, wenn die Geruechte, dass es sich womoeglich um die letzte Turbonegro Show ueberhaupt handeln solle, tatsaechlich zutreffen. Teilweise aus Krankheitsgruenden (Euro Boy leidet an Hodgkin’s Disease) sind gleich drei Mitglieder mit dem gestrigen Abend bei Turbonegro ausgestiegen, so dass die Aufloesungsgeruechte wohl nicht von der Hand zu weisen sind. Sollte es tatsaechlich so kommen, kann man mit den Stone Roses sagen: at least you left your life in style. Groesser gehts nicht.
Die Stilkritik:
– The Disciplines: Ken Stringfellow wie immer 1A gekleidet. Nur die tollen weissen Schuhe vom Berlin-Auftritt haben wir vermisst!
– The National: ungefaehr genauso oede wie ihr Auftritt. Alt vor ihrem eigenen Alter.
– Sonic Youth: Kim Gordon koennte zwar die Mutter von 80% der Festivalbesucher sein, aber Style hat sie in ihrem roten Kleidchen immer noch mehr als der ganze Rest hier.
– Okkervil River: skinny tie im gleichen Schwarz wie die Hosenträger zu weißem Hemd: makellos!
– Lightspeed Champion: wer im August eine graue Fellmuetze traegt hat es einfach raus. Wie schon in seiner Zeit bei den Test Icicles einfach derbe sexy.
– Metronomy: handgemachte T-Shirts, in die Lampen eingenaeht sind und mit der Musik leuchten? Gibt es viel zu selten.
– Turbonegro: Seemaenner gehen immer. Und Ebbot Lundberg oben ohne ist ein, eh, grosses Erlebnis. Er schafft es spielerisch den ja nun auch nicht ganz schlanken Henk Von Helvete wie eine Mischung aus Brad Pitt und Adonis persoenlich aussehen zu lassen.
Tag 3:
Wie könnte man einen Festivaltag im Sonnenschein schöner beginnen als mit ultrabrutalem Shoegazing von A Place To Bury Strangers? Nun ja, die New Yorker können ja nichts dafür, dass sie statt in einem Kellerklub um 3 Uhr nachts bereits nachmittags um 15.00h spielen müssen, aber nichtsdestotrotz liefern sie ein hervorragendes Set ab.
Die Hälfte der Libertines stehen direkt danach auf der Bühne: Carl Barât und Gary Powell mit ihrer Nachfolgeband Dirty Pretty Things. Ein schönes Set, das sich ungefähr zu gleichen Teilen aus den beiden Alben speist, aber überraschenderweise auf die neue Lead-Single „Tired Of England“ verzichtet. Im Gegensatz zu ihrer ersten Tour gestalten die Dirty Pretty Things ihre Auftritte nun auch Libertines-Lied-frei, was am Ende wahrscheinlich eine gute Idee ist. Höhepunkt bleibt – wie auch auf Album Nummer Zwei – sicherlich „Truth Begins“.
Dass die Dirty Pretty Things nicht den durchschlagenden Erfolg bisher erreicht haben, zeigt sich ob des Zustands, dass der Norweger Thom Hell über ihnen auf der Festivalliste spielt. Direkt aus der Hölle ist auch dessen Langweilermucke, denen man doch die Beschreibung „Coldplay in langweilig“ wieder entziehen muss, weil man selbst Coldplay nicht so sehr beleidigen möchte.
Leider verpasst das Popblog das dem Vernehmen nach herausragende Fleet Foxes Konzert (Kollege Wigger bezeichnet es als eines der besten des Jahres), weil man die irrationale Hoffnung in sich trug, Pharrell Williams‘ N.E.R.D. würden vielleicht die beiden Single-Kollaborateure Santogold und Jules Casablancas aus New York mitgebracht haben. War natürlich nicht so, aber dennoch ist das N.E.R.D. Konzert ein großes Erlebnis. Selten, dass eine Band derart gut ein Publikum bearbeitet und dabei dennoch nicht in Peinlichkeiten abgleitet. Eine der positivsten Überraschungen des ganzen Festivals!
nerd
Weit weg von N.E.R.D. sind dagegen Holy Fuck mit ihrem Krautschraubrock, der einen unweigerlich in den Bann zieht und so eine wunderbare Ergänzung zum folgenden Hero Viewing auf der Hauptbühne darstellt: My Bloody Valentine mit einem ihrer sehr sehr seltenen Livekonzerte. Natürlich polarisiert Kevin Shields, denn entweder kann man sich auf sein Gitarrengeschrammel einlassen, das Fläche über Fläche stapelt oder die Langeweile obsiegt. Wir entscheiden uns selbstredend für Option 1.
Eine sehr angenehme Überraschung ist die junge norwegische Indie-Pop-band Casiokids, die mit schönen Liedern für den August und einer visuell sehr originellen Bühnenshow mit Tänzern und dreimetergroßen Figuren wunderbar unterhalten. Frisch von Moshi Moshi Records unter Vertrag genommen, bekommen Casiokids nun hoffentlich auch im Rest von Europa eine Bühne.
Bezeichnend für das gute Line-Up des Osloer Festivals ist, dass das Oya sich erlauben kann, zwei Acts wie Whitest Boy Alive und The Notwist im nächtlichen Club-Programm zu verstecken. The Notwist spielen dabei sogar ihren ersten Auftritt überhaupt auf norwegischem Boden, was auch zu einer überaus begeisterten Aufnahme der Weilheimer Band durch das überwiegend heimische Publikum führt. Notwist spielen dabei im Gegensatz zu ihrem Immergut-Auftritt ein mehr aus den jüngeren Alben bestehendes Programm. Ein paar Meter weiter im zwölften Stock der Arbeiterpartei spielt Erlend Øye mit Whitest Boy Alive ein enthusiasistisch bejubeltes Set auf der Aftershow-Party, das spätestens bei „Burning“ endgültig abhebt.
Die Stilkritik:
– Dirty Pretty Things: bis auf den am Gürtel befestigsten Schal ist Mr Barât eine Stilikone. Auch Didz mit seinem abgefuckten Mod-Look bekommt den Daumen nach oben. Drummer Powell kommt bereits oben ohne auf die Bühne und wie er kurz nach dem Auftritt zeigt: auch unten ohne. Für die grüne Jogginghose, die diesen Auftritt dann gerade noch so jugendfrei gestaltet, sind wir deshalb dankbar.
– N.E.R.D.: klar, etwas Bling Bling ist immer am Start, aber das sieht schon erheblich besser aus als 50 „schau auf meine Einschußlöcher!“ Cent.
– My Bloody Valentine: Shoegaze heißt das Genre, nicht Stylegaze. Und das hat auch seinen Grund.
– Whitest Boy Alive: die Frisur von Erlend Øye wird immer wunderlicher, der Nerdstyle bis zum letzten durchgezogen. Der Napoeleon Dynamite der internationalen Musikszene.
Der Abschlußtag des Øya ist in gewisser Weise der Norwegentag: gleich eine ganze Hand voll norwegischer Bands darf den Rauswerfer spielen. Den Anfang machen Big Bang, die in ihrer Heimat bereits eine große Rocknummer sind, aber dank ernsthafter Ambitionen, den Durchbruch in Amerika zu schaffen, Kontinentaleuropa bisher nur selten beglückten. Hier können wir auch noch einem seltenen Akustik-Auftritt beiwohnen, bevor wir zu Master Piece Of Cake weiterwandern.
Von allem Akustischem sind Master Piece of Cake so weit entfernt wie nur möglich. Die ganze Band sieht aus, als hätte sie sich justament von ihrer eigenen Konfirmation davon gestohlen, den Schlips etwas gelockert und nun alberne Brillen aufgesetzt, damit ihre Mütter sie nicht erkennen mögen. Musikalisch geht’s – das Recht der Jugend! – natürlich voll auf die Zwölf und die skandinavischen Kollegen von The Hives fallen einem unweigerlich als Vergleich ein. Dank kurioser Songtitel wie „Don’t Piss On Me And Tell Me It’s Raining“ bald auf einer Warped Tour near you!
Weiter geht’s mit Lokalmatadoren und Pirate Love, die in Tunika, Poncho und anderen modischen No-Gos auftreten und eine gewisse Verrücktheit vor sich hertragen. Beeinflusst ist man offensichtlich vom Proto-Punk der Stooges, bei denen Publikumsverwirrung ja auch immer zum Programm gehörte. Aber auf jeden Fall lieber die billige Provokation von Pirate Love als der schrecklich öde, amtliche Hardrock, den WE spielten. Dass sie ihr Set um 18.00 (!) Uhr mit Raketen in den Himmel beendeten schenkt uns ein schönes Bild: diese Band ist so überflüssig wie ihr eigenes Feuerwerk bei Sonnenschein.
Kur bevor man noch einmal alte Helden verehren darf, treten Neue auf die Bühne: No Age. Die Zweimannband aus dem Umfeld des Smell-Club in Los Angeles sorgte bereits letztes Jahr mit ihren Debüt-EPs für Aufsehen und bestätigen nun mit dem ersten Album auf SubPop sowie diesem irrsinnig guten Auftritt den ihnen vorauseilenden Ruf. Im nun wirklich schwer strapazierten Punk-Genre schaffen sie mit ihrer Einbindung von flächigem Sound, der teilweise an eine einzelne Shoegaze-Gitarre erinnert, dann wieder einige Minuten in Richtung Ambient abgleitet, in kurze, klare Strukturen eines Punksongs, der einfach nur noch nach Hause geprügelt wird, wirklich etwas Neues, Originelles. Der beste Bandauftritt des Wochenendes.
Den Abschluss auf der Hauptbühne bilden The Sonics. The Sonics? Ja, The Sonics, die Garagenrocküberband der 60er Jahre. Oder um es mit LCD Soundsystem zu sagen: THE SONICS! THE SONICS! THE SONICS!
In gewisser Weise wirkt es immer bizarr, wenn einem 50jährige Undertones „Teenage Kicks“ ins Gesicht singen oder eben die Sonics die Garagenhammer auspacken: Musik, die so sehr der Jugend, der Adoleszenz gehört, kann nie vollends überzeugen, wird sie von der alten Garde gespielt. Wer andererseits „Have Love Will Travel“ und „Strychnine“ hintereinander in einem Set aufführt, kann ja gar nicht verlieren. Mit ihrer Debütsingle „The Witch“ verabschieden sich die Sonics und wir uns vom Øya Festival, der bestorganisierten, freundlichsten und trotz alles Rocknrolls saubersten Musikveranstaltung, auf der wir uns je befanden. Mayhem gab es nur auf der Bühne, davor nie auch nur das kleinste Problem. All hail to Øya!
Stilkritik:
– Master Piece Of Cake: die Punkkonfirmanten. Die Brillen waren ein bisschen albern, aber ansonsten: die Jugend, eben!
– Pirate Love: über das Stilgefühl der Norweger von Pirate Love decken wir den Poncho des Schweigens.
– WE: nicht nur das albernste Konzert des Festivals, auch das albernste Outfit.
– The Sonics: grundsätzlich natürlich noch der alte 60s-Chic, der aber bei manchem mehr wie eine unfreiwillige Verkleidung eines Florida-Touristen wirkte.
– Sunn O))): Der ungefährste Stil des Wochenendes. Soviel Nebel hatte nicht einmal Carpenters „The Fog“ Horrorfilm, dementsprechend wenig konnte man erkennen. Umso eindrucksvoller jedoch die Umrisse der Mönchs(?)-Roben, die man erahnen konnte. Volle Punkte, volle Dröhnung.
1. Girl Talk: ein irrsinniges DJ- / Bastard-Pop-Set. War zurecht der einzige Künstler, der von den stagestürmenden Massen von der Bühne getragen wurde!
2. No Age: die perfekte Verbindung zwischen Stille, Shoegazegitarren und Punkexplosionen. NOCH besser als auf Platte.
3. The Mae-Shi: Pop und Experimentierfreude geben sich die Hand, dazu so energiegeladen wie keine andere Band auf diesem Festival.
4. N.E.R.D.: die große Überraschung. Hip-Hop und Rock gut gemischt und dabei herausragende Publikumsarbeiter. Selbst die VIP-Arena musste ran ans Jubeln, Winken und Schreien.
5. Metronomy: der beste von vielen sehr guten Nachtprogramm-Acts, die in den Clubs der Stadt versteckt waren. Hier könnte aber ebenso The Notwist oder Whitest Boy Alive stehen…
Die philosophischste Bandansage:
Pharrell Williams / N.E.R.D.: „Sometimes you ask yourself what comes first – the chicken or the egg. But for me love is the egg.“
Das beste Statement gegen Rassissmus:
geht auch an Pharrell, der schön paritätisch zwei weiße und zwei schwarze Girls auswählte, die mit ihm aufs Hotelzimmer durften.
Die beste Backstage/Hotellobby-Geschichte:
als sich der Kollege von einem deutschen Magazin mit dem Schlagzeuger von Mayhem anfreundete und beinahe die Wahrheit über die Geschichte erfahren hätte, ob die Band wirklich einst das Gehirn ihres ehemaligen Sängers, der Selbstmord begangen hatte, kochte und danach verspeiste. Dann kamen aber Groupies (weiße) und aus war’s mit den Vertraulichkeiten.
Die kurioseste Art auf das Festival zu gelangen:
…geht natürlich an das Mädchen, das kostenlosen Festivaleintritt dafür bekam, dass sie einen nackten Tandemfallschirmsprung auf das Festivalgelände absolvierte.
Das beste Preis-Leistungs-Verhältnis:
Ein CD-Shop mit sämtlichen Backcatalogs der auftretenden Bands, dessen CD-Preise hauptsächlich zwischen 7 und 12 Euro schwankten.
Das schlechteste Preis-Leistungs-Verhältnis:
Das Bier für 7,50 € (billig) bis 9 € (teuer) oder gar das Glas Wein für 35 € auf dem Festivalgelände.
Die besten SMS, die das Popblog erreichten:
4. „Wo bist du? Wir müssen weiter, immer weiter“
3. „Was macht das Leben nach dem rausch?“
2. „Bin zwar schon auf dem gelände, aber dafür komme ich zurück. Ok also gin um 15.30 auf der terasse.“
1. „Piratenliebe Kletterwand?“
Im siebten Nerdhimmel:
…waren wir, weil wir Sean von Rough Trade Shops kennenlernen durften, der die besten Linernotes der Welt in den RoughTradeShopsCompilations schreibt.
Dein Bericht/Dein Erlebnis
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Christian_alternakid am 04.01.2023 um 11:21 Uhr:
Tag 1:Auf, auf! Auf die gruenen Wiesen im Herzen Oslos. Wir wollen Rock. Wir wollen Roll.
Nachdem Ane Bruen uns zunaechst beinahe gleich wieder vertrieben haette, kommt gluecklicherweise ein Indie-Doppelpack, der ansteckend, wild, wirr, chaotisch sein wird.
Zunaechst unsere blutjungen Freunde von Los Campesinos!. Die englisch-walisische Siebenmannband geht mit juegendlichem Enthusiasmus an das Erbe der C86-Generation heran und produziert mit Geige, Keyboard, Glockenspiel, Gitarre und Geschrei, immer wieder Geschrei wunderbarsten Indie-Pop, der spaetestens bei „You! Me! Dancing!“ auch am fruehen Nachmittag das norwegische Publikum vollends infiziert. And I never cared about Ian MacKaye / Calvin Johnson never meant anything to me / but the International Tweecore Underground will save us all!.
Ziemlich sicher haben sich dagegen The Mae-Shi in ihrer Jugend fuer Ian MacKaye interessiert, sind doch die (Post-)Hardcore-Einfluesse trotz allem Pop immer noch deutlich herauszuhoeren. The Mae-Shi koennen in einer Sekunde Melodieseligkeit per mehrstimmigen Gesangs verbreiten, nur um direkt danach loszubruellen wie die Blood Brothers. Einen energiegeladeneren Auftritt wird man dieses Festival nicht mehr sehen, fantastisch.
Weniger wildem Geschrei, dafuer aber auch wirrem Ausdruckstanz zugewandt ist der junge Blog-Liebling Lykke Li, die allein dafuer Punkte bekommt, Vampire Weekend zu covern und mit ihrem eigenen Hit „Dance Dance Dance“ zu verschmelzen. An Dance war dagegen nicht einmal in einfacher Ausfuehrung bei Iron & Wine zu denken, der grossen Enttaeuschung des heutigen Tages. Was fuer wundervolle, einfache Songs hat der baertige Amerikaner doch einst produziert als er allein mit seiner Gitarre auf der Buehne stand. Was aber soll denn bitte diese Achtmannband, die jeden Song in ein anderes Soundgewand kleiden will? Einmal World Music, dann wieder Reggae, gefolgt von Mississippi-Blues. Ueber jeden dieser Songs walzt die backing band drueber als gaebe es kein tomorrow. Von Singer/Songwriter-Geheimtipp zu mundgerechtem musthave fuer das linke Bildungsbuergertum. Ein Aergernis.
Wenigstens unpraetentioes bleibt dagegen die Hoffnung der norwegischen Szene Ida Maria mit ihrem amtlichen Rock. Fuer „*I like you* sounds better when you are naked“ und „Oh My God“ wuerde das amerikanische Management von Avril Lavigne wahrscheinlich Millionen zahlen. Und das ist immer noch sympathischer als die Gigantomanie der nachfolgenden Kaizers Orchestra, deren groesstes Verdienst ist, dass wir nun fuer immer dankbar sein werden, dass Die Toten Hosen wenigstens nie auf die Idee gekommen sind, wie wild auf Muelltonnen einzutrommeln.
Minuten spaeter auf der Nebenbuehne dafuer eine Offenbarung: Girl Talk. Ein DJ-Set? Bastard-Pop? Whatever.
Girl Talk ist trashigster White Trash und legt doch ein Set auf, bei dem man nur noch durchdrehen kann – wie es auch die Hundertschaft an Konzertbesuchern macht, die nach 10 Minuten vor Begeisterung die Buehne stuermt und sich den letzten Anstand aus dem Leib tanzt. Faellt auch nicht schwer: bis zum Ende des Konzertes wird Mister Girl Talk selbst sich das Muskelshirt zerrissen und die Hose weggetanzt haben. Letzteres ist im uebrigen kein sprachliches Bild, er tanzt und springt tatsaechlich bis die Hose faellt. Gluecklich heben die Buehnenstuermer Girl Talk nach seinem Set in die Luft und tragen ihn von der Stage. Unfassbare Bilder, grossartige Musik. Girl Talk rules the world.
Girl Talk
(Girl Talk wird nach dem Auftritt von der begeisterten Menge von der Bühne getragen, Photo: Jan Erik Svendsen)
Die Stilkritik:
* Ane Brun: eine Mischung aus Folkfrollein und Rotkaeppchen. Kann nicht jeder tragen, Ane Brun zum Beispiel nicht.
* Los Campesinos: die Jungs unauffaellig, die drei Girls mit Hang zum Rock. and Roll.
* The Mae-Shi: baertige Nerds, aber in Teilen schon ueberdurchschnittlich gut aussehend.
Lykke Li
* Lykke Li: bizarr ausladendes schwarzes Kleid, das waehrend ihrer Ausdruckstanzversuche doch gefaehrlich wallte. Hatte man sich anders vorgestellt, als sie in „Little Bit“ and for you i keep my legs apart sang.
* Ida Maria: Ein blindes Truck Stop Mitglied haette mehr Glueck beim Griff in den Kleiderschrank. Ida Maria ist dann doch der Beweis, dass Maedchen eben nicht gut & stylish aussehen muessen, um Erfolg zu haben. Dafuer ein Dankeschoen.
* Girl Talk: White White Trash Trash. In Vollendung. Sleeveless Shirt zu knielanger grauer Jogginghose, weißen Socken und danach nur noch mit grauer Unterhose bekleidet. Im Trailer Park (oder Berlin-Mitte) wahrscheinlich der Hit.
Christian_alternakid am 04.01.2023 um 11:21 Uhr:
Tag 2:Dieser Tag soll mit Rockposen beginnen und mit Ueberrockposen enden. Wir kommen auf das Festivalgelaende als gerade unser Freund Ken Stringfellow mit seiner norwegischen Band The Disciplines das wirklich grossartige „Biggest Mistake“ anstimmt. Hier ist Stringfellow, alter Posies-Frontmann und Big Star Reunionmitglied, ganz bei sich selbst: fantastischer Power-Pop. Die anderen Disciplines-Songs verstehen sich dagegen auch mit dem haesslichen Kumpan Schweinerock ganz gut und sind deshalb verzichtbar, fuer Ken aber eine Einladung mal so richtig auf der Buehne die Rock- und Rampensau herauszulassen, was dann doch wieder sehr viel Spass macht.
Etwas betulicher geben sich dagegen Okkervil River, die aber wie immer mit ihrem Americana-Country-Rock ueberzeugen koennen. Sympathischer als Conor Oberst ist er allemal und musikalisch zumindest in den letzten drei Jahren auch nicht hintendran.
Musikalisch verwandt ist sicher auch Dev Hynes‘ neues Werk unter dem Namen Lightspeed Champion. Der fellbemuetzte Darling der britischen Folkszene gibt sich dabei ueberaus publikumsnah, draengt sein eigenes Publikum, doch jetzt bitte zu Sonic Youth auf die Hauptbuehne zu gehen und covert zuguterletzt noch unter groessem Jubel das Star Wars Theme.
Gemeinsam mit Lightspeed Champion wechseln wir dann natuerlich zu Sonic Youth auf die Hauptbuehne. Die elder statesmen der amerikanischen Indierockszene sind immer noch so sperrig wie vor 20 Jahren und keineswegs altersmilde. Im Gegensatz zu den vielgeruehmten The National enttaeuschen Sonic Youth keineswegs. The National dagegen haben sich entschlossen, das komplette Konzert im midtempo zu bestreiten und variieren fuer eine Band, die im Studio zu den ausgefuchstesten der US-Szene gehoert, erstaunlich wenig. Waehrend Kollege Zwirner The National mit dem „Interpol fuer Arme“ Siegel belegt, entscheiden wir uns fuer den Satz „Tindersticks in Rock aus Amerika“.
Originell, verspielt und trotzdem auf den Punkt sind dagegen Metronomy, die auf der Moshi Moshi Labelnacht das anwesende Publikum verblueffen. Mit ziemlicher Sicherheit wird man hier nicht das letzte Mal über Metronomy geschrieben haben und ein Zeltauftritt auf dem naechstjaehrigen Immergut wuerde fuer Jubelstuerme sorgen. Der Produzentenname des Moments ist Diplo mit seiner Arbeit fuer M.I.A. und Santogold. Sein DJ-Set ist recht gradliniger Techno mit Block Rocking Beats. Im direkten Vergleich mit dem Irrsinns-Auftritt von Girl Talk am Vortag zwar nur zweiter Sieger, aber wer sein Set mit einem eigenen Remix von „Paper Planes“ beenden kann, gewinnt kampflos.
Den Abschluss des Festivalabends bilden Turbonegro mit einer grossen Homecoming-Show: sie spielen ihr „Meisterwerk des Death-Punk“, „Apoaclypse Dudes“, in Gaenze vor einem ausrastenden Osloer Publikum. Turbonegro fahren auf, was nur geht: Feuerwerk, Flammenwerfer, nackte Maennerkoerper und Gaststars. Und was fuer Gaststars! Aus Schweden kommt Ebbot Lundberg, Saenger von Soundtrack Of Our Lives, und gar aus L.A. der grosse Nick Oliveri, nun MondoGenerator, ehemals Queens Of The Stone Age. Nicht weiter verwundern wuerde deshalb, wenn die Geruechte, dass es sich womoeglich um die letzte Turbonegro Show ueberhaupt handeln solle, tatsaechlich zutreffen. Teilweise aus Krankheitsgruenden (Euro Boy leidet an Hodgkin’s Disease) sind gleich drei Mitglieder mit dem gestrigen Abend bei Turbonegro ausgestiegen, so dass die Aufloesungsgeruechte wohl nicht von der Hand zu weisen sind. Sollte es tatsaechlich so kommen, kann man mit den Stone Roses sagen: at least you left your life in style. Groesser gehts nicht.
Die Stilkritik:
– The Disciplines: Ken Stringfellow wie immer 1A gekleidet. Nur die tollen weissen Schuhe vom Berlin-Auftritt haben wir vermisst!
– The National: ungefaehr genauso oede wie ihr Auftritt. Alt vor ihrem eigenen Alter.
– Sonic Youth: Kim Gordon koennte zwar die Mutter von 80% der Festivalbesucher sein, aber Style hat sie in ihrem roten Kleidchen immer noch mehr als der ganze Rest hier.
– Okkervil River: skinny tie im gleichen Schwarz wie die Hosenträger zu weißem Hemd: makellos!
– Lightspeed Champion: wer im August eine graue Fellmuetze traegt hat es einfach raus. Wie schon in seiner Zeit bei den Test Icicles einfach derbe sexy.
– Metronomy: handgemachte T-Shirts, in die Lampen eingenaeht sind und mit der Musik leuchten? Gibt es viel zu selten.
– Turbonegro: Seemaenner gehen immer. Und Ebbot Lundberg oben ohne ist ein, eh, grosses Erlebnis. Er schafft es spielerisch den ja nun auch nicht ganz schlanken Henk Von Helvete wie eine Mischung aus Brad Pitt und Adonis persoenlich aussehen zu lassen.
Christian_alternakid am 04.01.2023 um 11:22 Uhr:
Tag 3:Wie könnte man einen Festivaltag im Sonnenschein schöner beginnen als mit ultrabrutalem Shoegazing von A Place To Bury Strangers? Nun ja, die New Yorker können ja nichts dafür, dass sie statt in einem Kellerklub um 3 Uhr nachts bereits nachmittags um 15.00h spielen müssen, aber nichtsdestotrotz liefern sie ein hervorragendes Set ab.
Die Hälfte der Libertines stehen direkt danach auf der Bühne: Carl Barât und Gary Powell mit ihrer Nachfolgeband Dirty Pretty Things. Ein schönes Set, das sich ungefähr zu gleichen Teilen aus den beiden Alben speist, aber überraschenderweise auf die neue Lead-Single „Tired Of England“ verzichtet. Im Gegensatz zu ihrer ersten Tour gestalten die Dirty Pretty Things ihre Auftritte nun auch Libertines-Lied-frei, was am Ende wahrscheinlich eine gute Idee ist. Höhepunkt bleibt – wie auch auf Album Nummer Zwei – sicherlich „Truth Begins“.
Dass die Dirty Pretty Things nicht den durchschlagenden Erfolg bisher erreicht haben, zeigt sich ob des Zustands, dass der Norweger Thom Hell über ihnen auf der Festivalliste spielt. Direkt aus der Hölle ist auch dessen Langweilermucke, denen man doch die Beschreibung „Coldplay in langweilig“ wieder entziehen muss, weil man selbst Coldplay nicht so sehr beleidigen möchte.
Leider verpasst das Popblog das dem Vernehmen nach herausragende Fleet Foxes Konzert (Kollege Wigger bezeichnet es als eines der besten des Jahres), weil man die irrationale Hoffnung in sich trug, Pharrell Williams‘ N.E.R.D. würden vielleicht die beiden Single-Kollaborateure Santogold und Jules Casablancas aus New York mitgebracht haben. War natürlich nicht so, aber dennoch ist das N.E.R.D. Konzert ein großes Erlebnis. Selten, dass eine Band derart gut ein Publikum bearbeitet und dabei dennoch nicht in Peinlichkeiten abgleitet. Eine der positivsten Überraschungen des ganzen Festivals!
nerd
Weit weg von N.E.R.D. sind dagegen Holy Fuck mit ihrem Krautschraubrock, der einen unweigerlich in den Bann zieht und so eine wunderbare Ergänzung zum folgenden Hero Viewing auf der Hauptbühne darstellt: My Bloody Valentine mit einem ihrer sehr sehr seltenen Livekonzerte. Natürlich polarisiert Kevin Shields, denn entweder kann man sich auf sein Gitarrengeschrammel einlassen, das Fläche über Fläche stapelt oder die Langeweile obsiegt. Wir entscheiden uns selbstredend für Option 1.
Eine sehr angenehme Überraschung ist die junge norwegische Indie-Pop-band Casiokids, die mit schönen Liedern für den August und einer visuell sehr originellen Bühnenshow mit Tänzern und dreimetergroßen Figuren wunderbar unterhalten. Frisch von Moshi Moshi Records unter Vertrag genommen, bekommen Casiokids nun hoffentlich auch im Rest von Europa eine Bühne.
Bezeichnend für das gute Line-Up des Osloer Festivals ist, dass das Oya sich erlauben kann, zwei Acts wie Whitest Boy Alive und The Notwist im nächtlichen Club-Programm zu verstecken. The Notwist spielen dabei sogar ihren ersten Auftritt überhaupt auf norwegischem Boden, was auch zu einer überaus begeisterten Aufnahme der Weilheimer Band durch das überwiegend heimische Publikum führt. Notwist spielen dabei im Gegensatz zu ihrem Immergut-Auftritt ein mehr aus den jüngeren Alben bestehendes Programm. Ein paar Meter weiter im zwölften Stock der Arbeiterpartei spielt Erlend Øye mit Whitest Boy Alive ein enthusiasistisch bejubeltes Set auf der Aftershow-Party, das spätestens bei „Burning“ endgültig abhebt.
Die Stilkritik:
– Dirty Pretty Things: bis auf den am Gürtel befestigsten Schal ist Mr Barât eine Stilikone. Auch Didz mit seinem abgefuckten Mod-Look bekommt den Daumen nach oben. Drummer Powell kommt bereits oben ohne auf die Bühne und wie er kurz nach dem Auftritt zeigt: auch unten ohne. Für die grüne Jogginghose, die diesen Auftritt dann gerade noch so jugendfrei gestaltet, sind wir deshalb dankbar.
– N.E.R.D.: klar, etwas Bling Bling ist immer am Start, aber das sieht schon erheblich besser aus als 50 „schau auf meine Einschußlöcher!“ Cent.
– My Bloody Valentine: Shoegaze heißt das Genre, nicht Stylegaze. Und das hat auch seinen Grund.
– Whitest Boy Alive: die Frisur von Erlend Øye wird immer wunderlicher, der Nerdstyle bis zum letzten durchgezogen. Der Napoeleon Dynamite der internationalen Musikszene.
Christian_alternakid am 04.01.2023 um 11:22 Uhr:
Der Abschlußtag des Øya ist in gewisser Weise der Norwegentag: gleich eine ganze Hand voll norwegischer Bands darf den Rauswerfer spielen. Den Anfang machen Big Bang, die in ihrer Heimat bereits eine große Rocknummer sind, aber dank ernsthafter Ambitionen, den Durchbruch in Amerika zu schaffen, Kontinentaleuropa bisher nur selten beglückten. Hier können wir auch noch einem seltenen Akustik-Auftritt beiwohnen, bevor wir zu Master Piece Of Cake weiterwandern.Von allem Akustischem sind Master Piece of Cake so weit entfernt wie nur möglich. Die ganze Band sieht aus, als hätte sie sich justament von ihrer eigenen Konfirmation davon gestohlen, den Schlips etwas gelockert und nun alberne Brillen aufgesetzt, damit ihre Mütter sie nicht erkennen mögen. Musikalisch geht’s – das Recht der Jugend! – natürlich voll auf die Zwölf und die skandinavischen Kollegen von The Hives fallen einem unweigerlich als Vergleich ein. Dank kurioser Songtitel wie „Don’t Piss On Me And Tell Me It’s Raining“ bald auf einer Warped Tour near you!
Weiter geht’s mit Lokalmatadoren und Pirate Love, die in Tunika, Poncho und anderen modischen No-Gos auftreten und eine gewisse Verrücktheit vor sich hertragen. Beeinflusst ist man offensichtlich vom Proto-Punk der Stooges, bei denen Publikumsverwirrung ja auch immer zum Programm gehörte. Aber auf jeden Fall lieber die billige Provokation von Pirate Love als der schrecklich öde, amtliche Hardrock, den WE spielten. Dass sie ihr Set um 18.00 (!) Uhr mit Raketen in den Himmel beendeten schenkt uns ein schönes Bild: diese Band ist so überflüssig wie ihr eigenes Feuerwerk bei Sonnenschein.
Kur bevor man noch einmal alte Helden verehren darf, treten Neue auf die Bühne: No Age. Die Zweimannband aus dem Umfeld des Smell-Club in Los Angeles sorgte bereits letztes Jahr mit ihren Debüt-EPs für Aufsehen und bestätigen nun mit dem ersten Album auf SubPop sowie diesem irrsinnig guten Auftritt den ihnen vorauseilenden Ruf. Im nun wirklich schwer strapazierten Punk-Genre schaffen sie mit ihrer Einbindung von flächigem Sound, der teilweise an eine einzelne Shoegaze-Gitarre erinnert, dann wieder einige Minuten in Richtung Ambient abgleitet, in kurze, klare Strukturen eines Punksongs, der einfach nur noch nach Hause geprügelt wird, wirklich etwas Neues, Originelles. Der beste Bandauftritt des Wochenendes.
Den Abschluss auf der Hauptbühne bilden The Sonics. The Sonics? Ja, The Sonics, die Garagenrocküberband der 60er Jahre. Oder um es mit LCD Soundsystem zu sagen: THE SONICS! THE SONICS! THE SONICS!
In gewisser Weise wirkt es immer bizarr, wenn einem 50jährige Undertones „Teenage Kicks“ ins Gesicht singen oder eben die Sonics die Garagenhammer auspacken: Musik, die so sehr der Jugend, der Adoleszenz gehört, kann nie vollends überzeugen, wird sie von der alten Garde gespielt. Wer andererseits „Have Love Will Travel“ und „Strychnine“ hintereinander in einem Set aufführt, kann ja gar nicht verlieren. Mit ihrer Debütsingle „The Witch“ verabschieden sich die Sonics und wir uns vom Øya Festival, der bestorganisierten, freundlichsten und trotz alles Rocknrolls saubersten Musikveranstaltung, auf der wir uns je befanden. Mayhem gab es nur auf der Bühne, davor nie auch nur das kleinste Problem. All hail to Øya!
Stilkritik:
– Master Piece Of Cake: die Punkkonfirmanten. Die Brillen waren ein bisschen albern, aber ansonsten: die Jugend, eben!
– Pirate Love: über das Stilgefühl der Norweger von Pirate Love decken wir den Poncho des Schweigens.
– WE: nicht nur das albernste Konzert des Festivals, auch das albernste Outfit.
– The Sonics: grundsätzlich natürlich noch der alte 60s-Chic, der aber bei manchem mehr wie eine unfreiwillige Verkleidung eines Florida-Touristen wirkte.
– Sunn O))): Der ungefährste Stil des Wochenendes. Soviel Nebel hatte nicht einmal Carpenters „The Fog“ Horrorfilm, dementsprechend wenig konnte man erkennen. Umso eindrucksvoller jedoch die Umrisse der Mönchs(?)-Roben, die man erahnen konnte. Volle Punkte, volle Dröhnung.
Christian_alternakid am 04.01.2023 um 11:27 Uhr:
Die besten Auftritte:1. Girl Talk: ein irrsinniges DJ- / Bastard-Pop-Set. War zurecht der einzige Künstler, der von den stagestürmenden Massen von der Bühne getragen wurde!
2. No Age: die perfekte Verbindung zwischen Stille, Shoegazegitarren und Punkexplosionen. NOCH besser als auf Platte.
3. The Mae-Shi: Pop und Experimentierfreude geben sich die Hand, dazu so energiegeladen wie keine andere Band auf diesem Festival.
4. N.E.R.D.: die große Überraschung. Hip-Hop und Rock gut gemischt und dabei herausragende Publikumsarbeiter. Selbst die VIP-Arena musste ran ans Jubeln, Winken und Schreien.
5. Metronomy: der beste von vielen sehr guten Nachtprogramm-Acts, die in den Clubs der Stadt versteckt waren. Hier könnte aber ebenso The Notwist oder Whitest Boy Alive stehen…
Die philosophischste Bandansage:
Pharrell Williams / N.E.R.D.: „Sometimes you ask yourself what comes first – the chicken or the egg. But for me love is the egg.“
Das beste Statement gegen Rassissmus:
geht auch an Pharrell, der schön paritätisch zwei weiße und zwei schwarze Girls auswählte, die mit ihm aufs Hotelzimmer durften.
Die beste Backstage/Hotellobby-Geschichte:
als sich der Kollege von einem deutschen Magazin mit dem Schlagzeuger von Mayhem anfreundete und beinahe die Wahrheit über die Geschichte erfahren hätte, ob die Band wirklich einst das Gehirn ihres ehemaligen Sängers, der Selbstmord begangen hatte, kochte und danach verspeiste. Dann kamen aber Groupies (weiße) und aus war’s mit den Vertraulichkeiten.
Die kurioseste Art auf das Festival zu gelangen:
…geht natürlich an das Mädchen, das kostenlosen Festivaleintritt dafür bekam, dass sie einen nackten Tandemfallschirmsprung auf das Festivalgelände absolvierte.
Das beste Preis-Leistungs-Verhältnis:
Ein CD-Shop mit sämtlichen Backcatalogs der auftretenden Bands, dessen CD-Preise hauptsächlich zwischen 7 und 12 Euro schwankten.
Das schlechteste Preis-Leistungs-Verhältnis:
Das Bier für 7,50 € (billig) bis 9 € (teuer) oder gar das Glas Wein für 35 € auf dem Festivalgelände.
Die besten SMS, die das Popblog erreichten:
4. „Wo bist du? Wir müssen weiter, immer weiter“
3. „Was macht das Leben nach dem rausch?“
2. „Bin zwar schon auf dem gelände, aber dafür komme ich zurück. Ok also gin um 15.30 auf der terasse.“
1. „Piratenliebe Kletterwand?“
Im siebten Nerdhimmel:
…waren wir, weil wir Sean von Rough Trade Shops kennenlernen durften, der die besten Linernotes der Welt in den RoughTradeShopsCompilations schreibt.